Die psychischen Schatten der schönen digitalen Welt werden länger
Fachleute warnen: KI, Social Media & Co. können zu mehr und „neuen“ seelischen Störungen führen.
Nach Corona kam der Krieg und mit dem Krieg die Energiekrise. Deren Dauer und Auswirkungen noch gar nicht absehbar sind. Garniert wird die Misere mit einer inzwischen auf 10 % gekletterten Inflation. Viele Menschen machen sich – durchaus zu Recht – große Sorgen um die Zukunft.
Kein Wunder, dass die Zahl derer, die psychotherapeutische Unterstützung brauchen, stark gestiegen ist und weiter zunimmt. Nach Auffassung von Fachleuten droht durch den Dauerkrisen-Modus aber ein weiterer Risikofaktor für die psychische Gesundheit der Menschen aus dem Blick zu geraten – und das, obwohl die Entwicklung gerade in diesem Bereich ungeheuer schnell verläuft:
Digitalisierung, künstliche Intelligenz (KI) und die sozialen Medien brauchen dringend sowohl wirksame gesetzliche Kontrollen als auch ein gehöriges Maß bewusster Eigenverantwortung der Nutzer (immer m/w/d).
Das fordert z. B. der Psychotherapeut Johannes Hepp in seinem neuesten Buch: „Die Psyche des Homo Digitalis.“ 21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern.
Mancher erinnert sich noch an die in den Nullerjahren heftig geführten Diskussionen um Egoshooter. Diese Spiele standen im Verdacht, für psychische Fehlentwicklungen bis hin zu Amokläufen (mit-)verantwortlich zu sein. Inzwischen regt sich kaum noch jemand über „Ballerspiele“ auf. Offenbar ist für die Psyche der Nutzer weniger der Inhalt eines Spiels entscheidend als vielmehr die jeweilige Persönlichkeit. Anders gesagt: Ein Egoshooter ist – die Altersbegrenzung berücksichtigt – nur für Spieler kritisch, die psychisch ohnehin schon erheblich angeschlagen sind und gefährliche Defizite aufweisen.
Anders sieht es, so Johannes Hepp, mit den sozialen Netzwerken und ihren inzwischen kaum noch zu überblickenden Einsatzmöglichkeiten aus. Sie führen auf verschiedenen Ebenen zu einer tiefgreifenden Veränderung des gesellschaftlichen Lebens – mit, warnt der Autor, gravierenden Auswirkungen. Ein Dreh- und Angelpunkt sei dabei eine Art „Vergleicheritis“: Egal, ob es um den Urlaub geht, die persönliche Fitness, das Haustier oder die Kinder – alles und jedes wird verglichen und bewertet.
Ein stimmungsvolles Foto mit Morgennebel überm Fjord hat keine Chance gegen Bilder von der hippen Strandparty auf Bali. Man muss also zumindest noch einen Elch draufsetzen, der morgens ins Zelt guckt, sonst ist der ganze Urlaub nichts mehr wert. Man freut sich, z. B. mit Fahrradfahren und einer Ernährungsumstellung fünf Kilo abgenommen zu haben, teilt dieses Erfolgserlebnis im Netz – und sieht Bilder von Usern, die neben ihrem tollen Job auch noch Zeit für ihre tolle Familie haben und jeden Tag ein tolles Work-out für ihren tollen Body absolvieren.
Die gephotoshopten Fotos der angesagten Influencerinnen zeigen eine bonbonbunte Superwelt. Dazu ständig das Versprechen: „Wenn du es wirklich willst, kannst du genauso ein schönes Leben haben wie ich.“ Was aber im Umkehrschluss heißt: „Wenn du nicht so schön/erfolgreich/glücklich bist wie ich, strengst du dich nicht genug an.“
Tatsächlich aber geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die in den sozialen Netzwerken gezeigten Erfolgsmodelle für Familie, Freizeit und Beruf seien für immer weniger Menschen erreichbar, warnt Johannes Hepp.
Das ständige Vergleichen, Scoren und Werten, Likes oder Dislikes bis hin zu Shitstorms führen nicht nur zu Stress. Der zwanghafte Wunsch, nur ja nichts zu verpassen und immer am Ball zu bleiben, führt, zeigt Johannes Hepp, schnell zu regelrechten Süchten. Und da es immer User gibt, die angesagter, schöner, trainierter oder erfolgreicher sind, bleiben Frusterlebnisse nicht aus.
Die Gefahr ist groß, dass beruflicher Erfolg und das Familienleben Schaden nehmen – ganz zu schweigen von der Partnersuche, bei der immer mehr Menschen die Suche nach dem passenden Partner ebenfalls Algorithmen überlassen.
Und auch das funktioniert längst nicht so gut, wie immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene glauben: Die scheinbare Verfügbarkeit von weltweit buchstäblich Milliarden Usern führt schnell dazu, immer weiter zu suchen – irgendwo muss es einfach das „perfect match“ geben ...
Bei seinen Patienten zeigen sich Folgen und Nebenwirkungen des selbstverständlichen und gänzlich unreflektierten Umgangs mit den sozialen Medien immer häufiger, berichtet Johannes Hepp. Bislang würden diese Folgen und die sich abzeichnenden neuen Störungsbilder der Psyche aber von fachlicher Seite kaum berücksichtigt. Dies sicher auch, weil den wenigsten Betroffenen bewusst ist, welchen Einfluss die allgegenwärtigen und anscheinend unverzichtbaren digitalen Medien auf ihre psychische Befindlichkeit haben. Der Therapeut macht in seiner praktischen Arbeit allerdings schon jetzt eine ganze Reihe „neuer“ Neurosen aus, die die Psyche des „digitalen“ Menschen beeinträchtigen werden.
Motor der rasant wachsenden und immer besser verknüpften Welt der sozialen Netzwerke ist das Gewinnstreben einiger weniger Konzerne, die mit den Daten ihrer Nutzer und darauf passend zugeschnittener Werbung so viel Geld verdienen, dass ganze Staaten vor Neid erblassen. Johannes Hepp fordert angesichts dieser Marktmacht und der damit einhergehenden Risiken für die Nutzer die Einführung wirksamer Kontrollmechanismen durch die Staaten – und auch die Möglichkeit der Staaten, sich adäquat an den Gewinnen der Unternehmen zu beteiligen.
Den Nutzern sozialer Netzwerke rät der Psychotherapeut dringend, sich ganz bewusst wieder stärker auf sich selbst, reale Erlebnisse und das eigene Umfeld zu besinnen. Es gelte, sich der Manipulationsmacht der Netzwerke bewusst zu werden und sie mit Augenmaß zu nutzen.
Jens Heckmann
Experte für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Mitglied im Service-Team des VFP
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