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Erfolgsgeschichten aus der Praxis - wie aus einer unsicheren Geschlechtsidentität etwas ganz anderes wurde

Eine Erfolgsgeschichte aus meiner Praxis. Der Patient hat mir die Erlaubnis erteilt, seine Geschichte zu erzählen.

Markus Müller (Name geändert), ein junger Mann, kam in meine Praxis. Es ging um seine letzte Trennung und darum, einige Ereignisse aus seinem bisherigen Leben aufzuarbeiten, die ihm immer wieder Probleme in seinen Beziehungen und im täglichen Leben bereiteten und seit der Trennung wieder sehr präsent waren.

Auf dem vorab ausgefüllten Anamnesebogen wurden unter anderem traumatische Erlebnisse aus der Kindheit und immer wieder bestehende konkrete Ängste in der Gegenwart, hier explizit Verlustangst, aufgeführt.

Darüber hinaus fiel mir ein Vermerk besonders auf, der sich auf die Geschlechtsidentität bezog.

Ich fragte ihn: Haben Sie das Gefühl, im falschen Körper zu sein?

„Mal ja, mal nein.“

Haben Sie den Wunsch einer Geschlechtsumwandlung?

„Mal ja, mal nein.“

Auf Nachfrage berichtete er, dass er sich nicht sicher war, ob er im männlichen Körper „richtig“ ist oder eher eine Frau sein möchte. Er erzählte, dass er sich immer mal wieder seinen Bart abrasierte, sich als Frau kleidete, sich schminkte und eine Perücke aufsetzte, um dann als „Frau Müller“ in Erscheinung zu treten.

Es fühlte sich nach seinen Angaben für ihn nicht wie eine Verkleidung an, sondern eher so, als würde er komplett die Rolle wechseln.

In seiner Rolle als Mann wiederum vermied er sportliche Aktivitäten, die seinen Körper männlicher formen könnten, da ihn dann die Muskeln bei seiner Frauenrolle stören würden. Sexuelle Erregung spielte bei dem Wechsel keine Rolle.

Hieraus könnte sich eine Verdachtsdiagnose ergeben: „Störung der Geschlechtsidentität“. F 64.1 – Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen.

Info: „Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung, um die zeitweilige Erfahrung der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht zu erleben. Der Wunsch nach dauerhafter Genitalorganumwandlung oder chirurgischer Korrektur besteht nicht; der Kleiderwechsel ist nicht von sexueller Erregung begleitet“. (Quelle ICD-10).

Es könnte zudem die Frage aufkommen: Habe ich es mit einem homosexuellen Mann oder mit einer heterosexuellen Frau zu tun? Oder beides?

Ich stecke jedoch meine Patienten nicht gerne in scheinbar offene Diagnoseschubladen. Wie man sich da fühlt, habe ich mehr als oft genug selbst erfahren. Also nahm ich diese Aussagen zunächst nur zur Kenntnis und ließ sie so stehen. Wir vereinbarten, auf dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt einzugehen, da gerade andere Punkte für ihn vorrangig wichtig waren.

Wir wandten uns deshalb seinen Ängsten zu, wobei zurzeit die Verlustängste besonders belastend waren, da seine Eltern planten, in einen anderen Teil Deutschlands umzuziehen. Ich erfuhr, dass er schon immer unter Trennungen und Verlusten sehr gelitten hat und sich an Menschen geklammert hat. Oft hat er ihnen nach dem Mund gesprochen, er gab immer 120 %, damit er alles richtig machte. Das galt sowohl im Alltag, auf der Arbeit als auch in seiner Beziehung zu anderen Menschen, damit sie ihn unbedingt mochten.

Ich begann damit, nach seiner Kindheit zu fragen. Er berichtete, dass er bei seiner Geburt ein Frühchen war, seine Mutter sehr viel Blut verloren hätte und fast gestorben wäre. Er selbst musste einige Zeit im Brutkasten verbringen. Hier kann die Ursache für eine Bindungsstörung liegen, da Mutter und Kind direkt nach der Geburt getrennt wurden. Auch kann hierin bereits die Ursache seiner Verlustangst liegen.

Vor ein paar Jahren, also im Teenageralter, hat er erfahren, dass es eigentlich noch ein Kind gegeben hat. Es gab ein Zwillingskind, das verloren gegangen war, sodass er ein alleingeborener Zwilling ist. Er konnte mir auch berichten, dass das verlorene Kind ein Mädchen war und einen Namen (Janina) nennen.

Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass dieser vorgeburtliche Verlust tiefgreifende Eindrücke bei dem überlebenden Kind hinterlässt. Mitzubekommen, wie dieses andere Kind „verschwindet“ oder gar mit dem toten Geschwisterkind zusammen einige Zeit im Bauch der Mutter zu verbringen, kann traumatisch sein.

Alleingeborene Zwillinge leiden oft ein Leben lang unter dem scheinbar unerklärlichen Gefühl der Einsamkeit, unter Verlustängsten oder Bindungsunfähigkeit. Viele sind schon als Kind ständig auf der Suche und haben Angst vor Veränderungen. Also auch dieses Ereignis konnte eine vorgeburtliche Ursache für die Verlustängste sein!

Evelyne Steinemann beschreibt im Buch „Der verlorene Zwilling“ eindrücklich, wie Menschen demütigende und zerstörerische Beziehungen eingehen und aufrechterhalten mit der Intention – Hauptsache nicht alleine sein! Sie suchen nach etwas, ohne zu wissen, wonach, und kommen sogar in einer festen Beziehung nicht zur Ruhe. Manche entwickeln die Strategie, ihre Beziehungen immer wieder selbst zu lösen, damit sie nicht verlassen werden. Oder sie überfordern die Partner mit symbiotischen Beziehungsvorstellungen und wollen sie mit Haut und Haar für sich beanspruchen, womit genau das erreicht wird, was unbedingt verhindert werden sollte. Auch besteht die Tendenz, nach einer gewissen Zeit die Partnerschaft in eine Geschwisterbeziehung umzumodeln, was sich auch auf die Sexualität auswirkt. Oder sie sprechen vom plötzlichen Gefühl der Leere, das sich wie ein endloser Sog ins Nichts und in die Selbstauflösung anfühlt. Nicht selten versuchen sie, für beide zu leben, arbeiten Tag und Nacht oder üben gleichzeitig oder nacheinander mehrere Berufe im Leben aus. Viele flüchten in Süchte.

Besonders spannend wird es, wenn verlassene Zwillinge die Kleiderschränke öffnen. Viele kaufen Kleider und Schuhe immer doppelt und gleich in mehreren Farben. Die Vermutung liegt nahe, dass der Schrank für mehr als eine Person gedacht ist. Auch bei anderen Einkäufen wird oft alles in doppelter oder dreifacher Ausführung gekauft.

All diese Hinweise trafen in großer Übereinstimmung auf Herrn Müller zu. In mir entstand die Hypothese, dass der Verlust der Schwester sowohl mit den Ängsten von Herrn Müller ursächlich im Zusammenhang stehen könnte als auch zusätzlich möglicherweise die unklare Geschlechtsidentität und das Hin- und Herswitchen. Es könnte der unbewusste Versuch sein, das Leben für die verlorene Schwester mit zu leben, um diese zu ersetzen.

Ich schilderte Herrn Müller meine Hypothese und er sagte, dass sich diese für ihn stimmig anfühlte. Um sie nun zu überprüfen, schlug ich vor, dass wir uns sein Thema mit der verlorenen Schwester einmal ansehen. Er war einverstanden.

Achtung! – die folgende Vorgehensweise kann sehr tiefgehend und konfrontierend sein!

Zunächst bat ich ihn, aus diversen Filzmatten eine für seine Schwester und eine für sich herauszusuchen und so auf den Boden zu legen, wie es für ihn richtig ist. Er legte sie ganz nah nebeneinander (Externalisation des inneren Bildes).

Ich habe in meiner Praxis Puppen, die die Größe eines Babys haben, auch so aussehen und ganz weich und beweglich sind. Ich nutze diese häufig für die Arbeit mit dem inneren Kind oder auch stellvertretend für verlorene Kinder.

So legte ich jeweils eine Mädchenpuppe und eine Jungenpuppe auf die entsprechende Matte. Ich bat ihn nun, das Bild genau wahrzunehmen und zu schildern, welche Gedanken und Gefühle nun in ihm aufkamen. Er bekam Herzrasen und begann zu zittern. Im ersten Moment fühlte er sich ratlos und überfordert, Angst machte sich breit, sich damit zu konfrontieren, und die Frage, was das wohl alles an Auswirkungen haben kann. Trotzdem blieb er in der Situation und nahm weiter wahr. Schuldgefühle kamen hoch, die Frage: „Warum du und nicht ich?“ Auch Sätze wie „Ich habe mich immer alleine gefühlt“, „Ich habe mich nicht vollständig gefühlt“, „Ich wollte dich ersetzen“, „Ich habe versucht, dein Leben für dich zu leben“.

Ich ließ ihn alles aussprechen. Jetzt zeigte sich die Trauer über den Verlust. Endlich durfte sie da sein! Ich ließ ihn einige Zeit in diesen Gefühlen, damit er alles noch einmal genau wahrnehmen konnte.

Nun fragte ich um Erlaubnis, das Bild etwas zu verändern, er stimmte zu. Ich zog die Matten mit den Puppen ein kleines Stück auseinander, sodass eine kleine Lücke dazwischen entstand (erster Schritt der Ver- änderungsarbeit). Nun bat ich ihn, weiter zu seiner Schwester zu sprechen. Es waren Sätze aus der systemischen Aufstellungsarbeit, wie „Ich bin dein Bruder, du bist meine Schwester; wir sind zwei Menschen. Ich bin der Junge, du das Mädchen. Ich hätte dich gerne bei mir gehabt. Du bist schon gegangen, ich bleibe noch. Du bleibst für immer in meinem Herzen“ (zweiter Schritt der Veränderungsarbeit).

Ich ließ ihn besonders wahrnehmen, dass es sich um zwei Menschen handelte.

Herr Müller schaute hierbei die ganze Zeit auf die zwei Puppen und nahm dieses Bild in sich auf, so lange, bis er das Gefühl hatte, es ist gut (Internalisation).

Er berichtete, dass jetzt das Zittern aufgehört hatte und sein Herz wieder ganz ruhig und normal schlug. So beendeten wir die Sitzung.

Als er das nächste Mal zu mir kam, berichtete Herr Müller, er sei das letzte Mal sehr beschwingt nach Hause gegangen und habe seitdem einige Veränderungen an sich festgestellt. Wie bahnbrechend diese waren, ahnte ich noch gar nicht.

Er erzählte, er fühlte sich bestärkt und als wäre ein Druck von seiner Brust gewichen. Er hatte angefangen, sich in seinem Körper wohlzufühlen, sich selbst attraktiv zu finden und fühlte sich selbstbewusster. Er berichtete, dass er seine Frauenschublade geöffnet und sich die Sachen angeschaut hatte. Dabei bemerkte er, dass er nicht mehr den Drang verspürte, sie anzuziehen.

Allgemein trug er nun andere Kleidung als vorher, vor allem andere Farben. Er wollte seitdem seinen Bart nicht mehr abrasieren, sagte, die Frauensachen dürften jetzt gehen und die Perücken sollten abgegeben werden. Auch die Schminkutensilien würde er nicht mehr benötigen. Er kaufte nun nicht mehr alles doppelt. Er ging wieder ins Fitnessstudio und betrachtete auch seine körperliche Veränderung mit Wohlwollen!

Er war sich jetzt sicher, im männlichen Körper richtig zu sein! Viele Menschen in seinem Umfeld sagten ihm, dass er sich zum Positiven verändert habe, und er selbst sagte, dass er seine eigene Meinung viel besser vertreten konnte.

Es war eine unglaublich schnelle und tiefgreifende Veränderung. Ich freute mich sehr für meinen Patienten, dass er es geschafft hatte, all dieses in einer einzigen Sitzung für sich zu erreichen.

Allgemein gilt der Satz – keine Therapie ohne Diagnose. Meine großartige Ausbilderin hat immer gesagt, dass sie nicht mit Diagnosen arbeitet, sondern mit Menschen, Anliegen und Arbeitsaufträgen. Das entspricht meiner Einstellung. Natürlich beachte ich die Sorgfaltspflicht und arbeite nicht mit Krankheitsbildern, die außerhalb meiner Kompetenz liegen! Mein Arbeitsauftrag war die Aufarbeitung der Verlustängste.

Ich arbeite immer ursachenorientiert. Hierfür begebe ich mich mit meinen Patienten auf Forschungsreise zum Ursprung des Problems, um mit diesem zu arbeiten. Dadurch verändern sich immer auch die Symptome im Hier und Jetzt. Erst danach gehen wir in die Lösungsorientierung, um neue Wege für die Zukunft zu beschreiten.

Beim Schreiben dieses Artikels habe ich noch einmal das Buch „Der verlorene Zwilling“ zur Hand genommen und nun fiel mir diese Passage ins Auge: Es wird beschrieben, welche Auswirkungen es haben kann, wenn das verlorene Geschwisterkind andersgeschlechtlich war und hier besonders, wenn dieses das „Wunschgeschlecht“ der Eltern gewesen ist.

Hier besteht die Gefahr, dass das Kind versucht, dieses Geschlecht zu ersetzen, und glaubt, zugleich männlich und weiblich sein zu müssen. Manche versuchen, beide Identitäten anzunehmen, weil sie so stark unter der Trennung leiden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass alles in Ordnung sei.

Der Erfolg dieser Sitzung bestärkt mich in meiner intuitiven Arbeitsweise. Aus meiner systemischen Arbeit weiß ich, dass es wichtig ist, die Schwester ins Bild zu holen und anzusehen. Es ist eine Aufstellungsarbeit im Einzelsetting. Die Puppen sind hierbei die Stellvertreter. Das innere Bild wird externalisiert.

Es geht ums Wahrnehmen, Anerkennen, Sehen und letztendlich Verabschieden. Die veränderte Wahrnehmung wird wiederum internalisiert, wodurch sich die Gefühle zu dem Gesamtbild verändern.

Wir haben einen Verlust aufgearbeitet, der viele Ängste, vor allem Verlustängste, sowie Beziehungsprobleme nach sich gezogen hat. Und wie ein großer Zugewinn wurde dabei die unsichere Geschlechtsidentität geklärt!

Nun konnte das unverarbeitete Verlusterlebnis in eine normale Trauerverarbeitung übergehen, bei der ich Herrn Müller ebenso gerne begleitet habe wie auch bei seinen weiteren Anliegen.

Sabine Leidholdt
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Privatpraxis in Herten, Arbeitsschwerpunkte: systemische Methoden und EMDR
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