Essstörungen als Fluchtversuch aus emotionalen Traumata
Fortsetzung aus Freie Psychotherapie, 06.22
7. Trauma, Bindung, Scham und Essstörungen
An der k-PTBS-Symptomatik beteiligt sind häufig Gefühle der Scham und Kognitionen der Schuld. Da insbesondere in der Kindheit erworbene andauernde Trauma-Symptome meist durch Bezugspersonen (oft narzisstische und/oder gar psychopathische Menschen) entstanden sind, sich damit in den meisten Fällen ein unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten (Bindungstypen nach Ainsworth/Solomon) manifestiert, halten k-PTBS-Patienten (immer m/w/d) meist an auch toxischen Beziehungsmustern fest. Oft erfolgte schon in frühester Kindheit Beschämung, Demütigung und Beschuldigung durch die Aggressoren, was zu einem durch und durch selbstentwerteten Selbstbild führte. In Konsequenz bemühen sich k-PTBS-Patienten häufig sehr, weitere Situationen der Beschämung, die eventuell einen dorsalen Shutdown-Mechanismus bewirken können, zu verhindern.
Suchtverhalten, insbesondere im Falle der Essstörungen, könnte damit direkt im Zusammenhang stehen: Denn auf biologischer Ebene halten sich die anorektischen Patienten in einem dauerhaft sympathischen Zustand, also hoch aktiviert, regulieren damit Affekte herab und erleben (auch infolge des anorektisch bedingten Niedergangs präfrontaler (orbitofrontaler) Neuronen, die für Impulskontrolle zuständig zeichnen) eine erhöhte Aggressivität im Sinne der Selbstbehauptung.
Hungern als sterbeinitiierender Vorgang veranlasst dabei das Gehirn zu einer erhöhten Produktion von Dopamin und in der Folge endogener Opioide – das Gehirn setzt alles daran, dass es sterbende Menschen möglichst schmerzarm und in einem „beseelten“ emotionalen Erleben den Übergang in den Tod schaffen. Im Falle der erhöhten Nahrungsaufnahme bei Bulimie und Binge Eating Disorder löst das Suchtverhalten (das Bingen) ebenso eine Dopaminausschüttung aus.
Psychologische Faktoren wie das anfängliche Wiedererlangen von Selbsteffizienz durch Kontrolle des Körpers und der Figur durch Fasten oder abführende Maßnahmen, die damit einhergehende Erfahrung der (in diesem Fall erwünschten) Affektverflachung und/oder Möglichkeit der Affektregulation, ein narzisstisch geprägtes gesellschaftliches Verständnis von Schönheit und vor allem: fehlende bzw. fehlgeleitete Werteorientierung tragen dazu bei, dass Essstörungen als Bewältigungsversuch, als verzweifelter Versuch, doch noch Kontrolle und Ordnung in eine als bedrohlich und übergriffig erlebte Welt zu bringen. Täterintrojekte sorgen darüber hinaus oft dafür, dass in einem letzten, wenn auch narzisstisch-entwertenden Versuch der Wiederherstellung des Selbstwerts, andere Menschen häufig gemästet werden.
Scham und Sucht
Schuldfähigkeit entsteht lebensgeschichtlich relativ spät, erst mit der Pubertät und der Adoleszenz wird diese voll ausgeprägt. Davor weiß man nur, dass man Normen verletzt hat, die als Regeln wahrgenommen werden.
Scham entsteht dagegen früh im zweiten Lebensjahr, ca. ab dem 14. Monat. Davor ist dieses Affektverhalten (also Blickabwendung, sich Kleinmachen, Wegdrehen, sozialer Rückzug) nicht zu beobachten. Im ersten Lebensjahr sind 90 % der Kommunikation der Bezugsperson mit dem Säugling in einem gesunden Setting positiv und unterstützend. Wie Untersuchungen zeigen, ändert sich dies zwischen dem 11. und 17. Monat grundlegend: Nun werden, vor allem aufgrund der zunehmenden Entdeckerfreude und -fähigkeit des Kindes mit der ihm eigenen Gefährdung ca. alle neun Minuten Verbote oder Kritik/Tadel geäußert.
Nachdem im ersten Lebensjahr die Bezugspersonen co-regulierend für das Nervensystem des Kindes agierten und dazu beitrugen, dass das Kind seine Affekte eigenständig zu regulieren lernt, zeigen die Bezugspersonen dem Kind nun, wie es Impulskontrolle ausüben kann (also Affekte zurückhalten kann).
Scham wird als primärer sozialer Affekt bezeichnet und dient der Sozialisation des Kindes. Unerwünschte Tätigkeiten und Verhalten sollen im sozialen Kontext unterdrückt werden. Diese Art der Selbstregulation entsteht durch die Verinnerlichung von Scham und Beziehungsinteraktionen. Scham ist dabei ein dorsovagaler Prozess, also ein Hypoarousal.
Scham
- führt zu Regulation von sozial unerwünschten Affekten und Verhalten
- kontrolliert Neugierde bzw. das explorative Verhalten
- wird Teil der Selbstwahrnehmung als soziales Wesen
- koppelt zurück auf die Entwicklung des präfrontalen Kortex
- fördert sozioemotionale Entwicklung
- erzeugt Adaption und Wachstum in den frontolimbischen Strukturen
- Das Kind lernt Rücksichtnahme und Integration in bestehende soziale Systeme.
Wenn jedoch die Bezugspersonen das Kind in Scham und Demütigung ausgeliefert lassen, es also entweder selbst ohne Wiedergutmachung durch soziale Kontaktaufnahme beschämen oder es nicht in der Regulation des Affekts begleiten, erfährt das Kind Kontrollverlust und Hilflosigkeit.
Wenn das Kind im Hypoarousal haften bleibt, glaubt es mehr und mehr, dass die eigenen Defizite das Gefühl der erlebten Hilflosigkeit erklären.
Andauernd nicht aufgelöste Scham führt zum Beziehungsabbruch.
Narzisstische Störungen gelten sowohl in grandioser als auch vulnerabler Ausprägung als dringliches Bemühen, weiteres Erleben von Scham, die als nicht regulierbar etikettiert ist, zu verhindern.
Anorektische Störungen haben als Nebeneffekt die Garantie für die Patienten, nicht als „zu dick“ gesellschaftlich stigmatisiert zu werden. Im Gegenteil: Häufig geht das Ausgezehrtsein mit einem Gefühl der Überlegenheit, des Stolzes einher.
Bei den bulimischen und Binge-Störungen kontrollieren die Patienten dysregulierte Scham, indem sie die Störung häufig im Verborgenen/in der Isolation ausleben – und gleichzeitig den eigenen Eindruck der überdauernden Scham (durch den fragilen Selbstwert) vor sich selbst als gerechtfertigt erleben. Binge und Bulimie sind hochgradig schambesetzte Suchterkrankungen.
Beschämte Kinder kompensieren die demütigenden und übergriffigen Erfahrungen oft durch erhöhtes Autonomiebestreben: Beziehungen werden vermieden oder oberflächlich gehalten, wahre reziproke Sympathie wird boykottiert, gleichwertige Beziehungen als unmöglich erachtet. Die Ablehnung der eigenen Bedürftigkeit oder die Aufgabe von Beziehung, um die Würde zu wahren, ergeben sich daraus. Das Kind wird zu einer Person, die sich nur sehr wenig regulieren kann und dies meist nur durch Rückzug (Autoregulation).
Oft sind die Bezugspersonen später essgestörter Menschen Narzissten, die in einer Spirale aus narzisstischer Kränkbarkeit, Egozentrik, Empathielosigkeit, Entwertung des Kinds gefangen sind. Und doch ist das Kind auf Beziehung angewiesen, um überleben zu können: Es muss auch andauernde Beschämung und Entwertung erdulden.
Diese erlebte Demütigung, aus der es kein Entrinnen gibt, führt häufig zur sog. Scham-Rage: Durch die anhaltende emotionale und verbale Übergriffigkeit der Bezugspersonen entsteht im Kind gleichzeitig zum schambegleitenden Hypoarousal ein Hyperarousal. Dieses Hyperarousal darf und kann i. d. R. jedoch nicht ausgelebt werden, es bleibt im Kind als andauernde Hypererregung stecken.
Das Kind bleibt in nicht regulierbaren Zuständen gefangen: Dies kann auf Dauer zu einer späteren Unterregulation von Aggression und damit Mager-, Sport- oder auch Spielsucht führen. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen wie auch anorektische Störungen und andere Suchterkrankungen, die mit starken nach außen gerichteten Täterintrojekten verbunden sind (die Aggression wird im Außen sichtbar, richtet sich im demonstrativen Ausleben der Sucht auch auf andere Menschen, von denen erwartet wird, sich der Sucht zu beugen und deren Ausübung zu unterstützen), haben häufig den Hintergrund einer demütigenden und andauernden Exposition massiver Scham als Kind.
Bei Binge und Bulimie ist das Ausleben der Sucht oft die einzige Methode, die Übererregung des NV durch die erzwungene Aktivierung des Parasympathikus abzuschwächen. Manchmal kann nur durch Essen Selbstberuhigung oder Entspannung erfahren werden.
So gehen Ess- oder Hungersüchtige eine intensive Liebesbeziehung mit ihrer Sucht ein: Was immer treu bleibt, ist Essen oder eben dessen Verweigerung als Konstante. Essen wie Fasten sind der Versuch, das tiefe emotionale Vakuum zu füllen, eine Brücke über den Abyss der existenziellen Vereinsamung zu schlagen.
Ess- oder hungersüchtigen Menschen ist es oft nicht möglich, um Hilfe zu bitten oder eigene „Imperfektion“ zuzugeben, etwas nicht zu können, überfordert zu sein. So bleibt der Eindruck des Auf-sich-gestelltseins, des Verlassenseins erhalten. Anderen Menschen und Beziehungen wird nicht mehr die Chance gegeben, sich eventuell als würdig und heilend zu erweisen.
8. Traumatherapie: Co-Regulation und ventrale Aktivierung
Wenn wir keine Co-Regulation erfahren, verharrt der Organismus im Hypo- bzw. Hyperarousal. In der Folge entwickeln wir dysfunktionales Coping: Das Fawn-Verhalten kann eine Antwort sein, Suchtverhalten eine andere.
Denn wie können wir unseren Organismus denn sonst, wenn das Social Engagement und dessen co-regulative Funktion versagt, selbst regulieren – wenn nicht mit externer Stimulation (Sport, Drogen, Nikotin) und Beruhigung (Essen, Medikamente)?
Im dorsalen, oft durch Gewalt oder Scham induzierten Shutdown werden Energien für eine potenzielle Zeit danach gespart: Energiereserven werden nicht angegriffen, um später darauf zurückgreifen zu können. So wird der Metabolismus reduziert – d. h. der Stoffwechsel ist sehr verlangsamt – Menschen, wenn der Zustand länger dauert, neigen zur Gewichtszunahme, nicht nur, weil sie mehr essen (Selbstberuhigung!), sondern auch weil sie weniger Kalorien verbrauchen.
Im Fawn-Syndrom neigen Menschen dazu, mit anderen Menschen zu essen und andere Menschen mit Nahrung zu versorgen, da Essen ein soziales Verhalten ist und in der Nahrungsaufnahme keine Aggression zu erwarten ist (Konzept des Gastmahls!).
Immobilität ohne Angst ist der Weg aus der dorsalen Starre hin zu entspanntem Erleben und hieraus zu sozialer Interaktion.
Erleben von Sicherheit und Verbundenheit sind Voraussetzung für Heilung.
Nahrung als erfülltes Grundbedürfnis erzeugt ein affektives Empfinden von Sicherheit. Diese körperlich empfundene Sicherheit entsteht auch in der adäquat ausgeglichenen Nähe zu anderen Personen.
Hierin liegt einer der Schlüssel für die Entstehung von Essstörungen: Über das selbstgesteuerte Essverhalten wird zunächst Handlungswirksamkeit zurückerlangt, gleichzeitig wird im Falle von Binge und Bulimie auch der Parasympathikus, v. a. der ventrale Vagus, in Aktion gezwungen. So dient Essen/Bingen als selbstberuhigende/selbstregulierende Maßnahme. Doch wie bei jeder Sucht verselbstständigt sich das Verhalten, insbesondere die Handlungswirksamkeit geht erneut verloren.
Trauma ist Grenzverletzung, Bewältigung ist Grenzreparatur/ -wiederherstellung.
Wenn wir davon ausgehen, dass Essstörungen ein Bewältigungsversuch erfahrener Bindungstraumatisierungen sind und dass jedes Trauma eine Grenzverletzung darstellt, bei k-PTBS jedoch häufig aufgrund des frühen Beginns der Traumatisierung noch gar keine Grenzen entwickelt werden konnten, ist es umso dringlicher, sich in der Therapie auch der Grenzwiederherstellung zu widmen. Dies kann über konkrete Übungen (Seilkreise legen) oder auf imaginativer Ebene stattfinden.
Eine Grenze kann nur in einem als sicher empfundenen Rahmen hergestellt werden – denn schließlich behindert eine Grenze auch die eigene Flucht oder den eigenen Angriff bzw. mutet der anderen Person eine gewisse Frustrationstoleranz zu.
Das ist vor allem für Fawns eine Herausforderung, die ja gelernt haben, dass der einzige Weg zur eigenen Sicherheit ist, der anderen Person jede Frustration zu ersparen.
Dieser Eindruck der Sicherheit erfolgt in der passiven wie aktiven Aktivierung des ventralen Vagus-Systems. Wie schon beschrieben, kann dies über das formale Setting, über Konzentration auf die Herstellung von Rapport wie auch über aktive körperorientierte Übungen oder auch Vorstellungsübungen erfolgen.
Ebenso geht es darum, die individuellen Bedürfnisse, die brachliegen und durch das Suchtverhalten kompensiert werden sollen, zu identifizieren. Welcher Dämon soll ausgehungert, welches emotionale Loch gestopft werden?
Um spezifisch therapeutisch auf das Suchtverhalten einzugehen, empfiehlt sich werteorientiertes und achtsamkeitsbasiertes Arbeiten.
Um das SES erneut als Ressource nutzbar zu machen, ist „nicht isoliertes Essen“ eine wichtige Strategie: Ein an einer Essstörung erkrankter Mensch soll sich wieder angewöhnen, in Gemeinschaft zu speisen.
Wir sind heute in der glücklichen Position, in einer multimodalen Therapie, die auch auf Austausch zwischen Körpertherapeuten, Medizinern und Psychologen beruht, sogar frühkindlich traumatisierten Menschen, deren Leben von Bewältigungsversuchen wie der Entwicklung von Suchterkrankungen gezeichnet ist, eine hilfreiche Begleitung zu sein. Voraussetzung ist, dass wir informiert und selbst neugierig bleiben.
Literatur finden Sie im Teil 1 dieses Artikels.
Dr. phil. Marion Friedrich
Lehrbeauftragte der Universität Augsburg, Fachbereich Analytische Philosophie, Dozentin an den Paracelsus Schulen, Schwerpunkte humanistische Methodik und Verhaltenstherapie, Praxis in Augsburg
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