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Psychotherapie: Schulmedizin versus Komplementärmedizin

Dieser Artikel trägt dazu bei, einen Überblick über die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland zu erhalten. Es geht um eine bewusste und wertschätzende Darstellung beider Versorgungswege. Das schließt allerdings kritische Anmerkungen nicht aus.

Der interessierte Leser mag sich fragen, weshalb in diesem Artikel die Begrifflichkeit „Komplementärmedizin“ und nicht „Alternativmedizin“ verwendet wird. Beide Begrifflichkeiten dienen der Abgrenzung zur Schulmedizin, der sog. evidenzbasierten Medizin. Synonyme sind es allerdings bei genauer Betrachtung nicht. Der Heilpraktiker für Psychotherapie (immer m/w/d) beispielsweise ist kein Alternativmediziner – er kann es auch aufgrund seines gesetzlich bestimmten Handlungsrahmens nicht sein. Er darf z. B. keine Medikamente verordnen. Insbesondere darf er auch keine schweren psychischen Erkrankungen behandeln, bei denen die Behandlung eines Facharztes u. a. wegen einer überwachten medikamentösen Einstellung indiziert wäre.

Die Coronapandemie hat zu einem weiteren starken Anstieg psychischer Erkrankungen geführt. Fast eine Milliarde Menschen weltweit lebten nach WHO-Angaben bereits 2019 (vor Corona) mit einer psychischen Krankheit. Das kann enorme Auswirkungen haben. Menschen mit schweren psychischen Störungen sterben 10 bis 20 Jahre früher als die allgemeine Bevölkerung, heißt es in dem Bericht der WHO. „Psychische Gesundheit geht mit körperlicher Gesundheit Hand in Hand“, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Aus dem DAK-Psychreport 2022 geht hervor, dass Fehlzeiten wegen psychisch begründeter Erkrankungen schwerpunktmäßig auf Depressionen, Angststörungen und insbesondere auf die steigende Anzahl von Anpassungsstörungen zurückzuführen sind. Das verursacht nicht nur immense wirtschaftliche Kosten, sondern macht auch einen rechtzeitigen Zugang zu therapeutischen Maßnahmen erforderlich. Das ist aber gegenwärtig leider häufig nicht der Fall.

Psychotherapeutische Versorgung

In der offiziellen und damit mediengebundenen Berichterstattung (wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Bundespsychotherapeutenkammer) wird ausschließlich über die Versorgung durch approbierte Ärzte und psychologische Psychotherapeuten berichtet. Diese erfolgt über Fachärzte - z. B. für Psychiatrie, Psychotherapie oder psychosomatische Medizin sowie über psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Das sind die Berufszweige, die psychotherapeutische Behandlungen über eine kassenärztliche Zulassung abrechnen können.

Nicht erwähnt (mit Ausnahme des Robert Koch-Institutes, RKI) wird allerdings die Versorgung über den komplementärmedizinischen Bereich (Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologen). Das ergibt ein falsches Bild, denn die komplementärmedizinische psychotherapeutische Versorgung hat einen durchaus großen und bedeutenden Stellenwert.

Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist die ambulante psychotherapeutische Versorgung in Deutschland gut aufgestellt (wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, 29.9.2022).

Diese Sichtweise teilt allerdings die Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) nicht. Demnach fehlen Hunderte niedergelassene Psychotherapeuten. Das ergibt sich ebenso aus einer Forderung des rheinlandpfälzischen Gesundheitsministers an das Gesundheitsministerium zu einer schnellen Aufstockung von Sitzen für Vertragspsychotherapeuten (Deutsches Ärzteblatt, 21.11.2022).

In Deutschland haben rund 18 Millionen Menschen Bedarf an Psychotherapie – das sind ca. 28 % der Bevölkerung. Trotz der in eigenen Praxen tätigen rund 32 000 krankenkassenzugelassenen Psychotherapeuten wird die psychotherapeutische Versorgung als Krankenkassenleistung von vielen Patienten und auch Psychotherapeuten als deutlich unzureichend bewertet.

Das größte Problem sind die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz!

Diese betragen vier Monate und länger und ausgerechnet bei Kindern und Jugendlichen bis zu neun Monaten! Auch bei einer beabsichtigten stationären Therapie in einer psychotherapeutischen Fachklinik muss mit langen Wartezeiten gerechnet werden. Diese Situation bestätigen tatsächlich viele Klienten von mir. Auch die Schaffung der Terminservicestellen (KBV) hat kaum Erleichterungen gebracht. Eine erschwerende Situation ergibt sich künftig aus der vom Bundesgesundheitsministerium zum 1.1.2023 geplanten Abschaffung des Gesetzes zur „Neupatienten-Regelung“.

Neben langen Wartezeiten wird auch die fehlende Balance in der Verteilung von Praxen in Städten bzw. auf dem Land kritisiert. Sämtliche bislang von der Politik und den Fachverbänden eingeleiteten Maß- nahmen haben nicht spürbar zu einer Verbesserung der Situation beigetragen. Das bedeutet, dass Menschen mit einem hohen Leidensdruck – und mit Erkrankungen, die immerhin die zweithöchste Anzahl von Krankschreibungen und Frühverrentungen in Deutschland verursachen – deutlich unterversorgt sind.

Dazu gibt es leider Patientengruppen, die aus der ärztlichen psychotherapeutischen Versorgung herausfallen. Das sind alle Patienten mit Zeiten von Krisen und Konflikten, besonders schweren Lebensumständen und Stress ohne diagnostizierte psychische Erkrankung. Kassenärztliche Leistungen erfolgen nur, wenn eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde.

Das medizinische Ethos in der Psychotherapie

Psychische Leiden sind häufig schwer zu diagnostizieren. Es gibt Grauzonen und daher auch Abgrenzungsprobleme. Biomarker wie bei körperlichen Erkrankungen gibt es eher nicht. Aus diesen Gründen ist eine sehr klare Evaluierung zu Ursachen der psychischen Störung erforderlich. Diese Tatsachen allein erfordern eine hohe medizinische und menschliche Kompetenz. Denn psychisches Leiden ist häufig gravierend und katastrophal. Nicht nur der betroffene Patient/Klient leidet, sondern oft auch das familiäre Umfeld. Hinzu kommt, dass Psychotherapie für viele noch ein Tabuthema ist.

Das erfordert eine besondere Hinwendung und gewissermaßen wertschätzende Umarmung des Patienten/Klienten. Der Fokus sollte – da, wo es möglich ist – ausschließlich und konsequent auf Heilung liegen.

Die übersehene Kompetenz

Im Bereich der komplementären psychotherapeutischen Versorgung sind der Heilpraktiker für Psychotherapie und Diplom-Psychologen mit einer therapeutischen Qualifikation tätig. Auch Diplom-Psychologen brauchen derzeit eine Zulassung nach dem Heilpraktikergesetz, wenn sie psychotherapeutisch tätig werden wollen.

Der Begriff Heilpraktiker innerhalb der Bezeichnung Heilpraktiker für Psychotherapie impliziert häufig die Annahme, dass er sog. alternativ- oder naturheilkundliche Methoden nutzt. Das ist zumindest nach den gesetzlichen Vorschriften nicht richtig. Zum einen gibt es für die Behandlung bestimmter Erkrankungen ohnehin einen gesetzlich festgeschriebenen Arztvorbehalt. Zum anderen ist die Zulassung des sektoralen Heilpraktikers klar auf Psychotherapie beschränkt, d. h. Verfahren der medizinischen Diagnostik und Behandlung körperlicher Erkrankungen anzuwenden, sind den Heilpraktikern für Psychotherapie ohnehin nicht erlaubt.

Er muss bei der gesundheitsamtlichen schriftlichen und mündlichen Überprüfung vor allem Kenntnisse in einem anerkannten Psychotherapieverfahren, in Psychologie, Psychiatrie und Psychopathologie sowie Rechts- und Berufskunde nachweisen. Die genaue Ausgestaltung der Überprüfung - d. h. Art und Umfang – ist länderabhängig geregelt.

Nach Erteilung der Zulassung sind die Heilpraktiker für Psychotherapie – genauso wie die freien Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung, die beide ausschließlich mit Privatpatienten arbeiten, frei in ihrer Methodenwahl. Und schaut man z. B. in unser Nachbarland Österreich, stellt man fest, dass es dort die Engführung auf lediglich vier Richtlinienverfahren wie in Deutschland nicht gibt. Stattdessen gelten dort wie in vielen europäischen Ländern 22 psychotherapeutische Verfahren als wissenschaftlich anerkannt, sodass sie auch alle von den dortigen Krankenkassen erstattet werden.

In Einzelfällen ist es nicht auszuschließen, dass auch „esoterische“ Methoden angewendet werden. Das kann allerdings bei einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten auch nicht ausgeschlossen werden. Zudem ist der Begriff „esoterisch“ schillernd und unscharf und deshalb völlig ungeeignet, Behandlungsmethoden einzuteilen und zu unterscheiden.

Die schlichte Zweiteilung, die von manchen Heilpraktiker-Kritikern gerne gemacht wird, – hier Wissenschaft und da Esoterik – wird der Differenziertheit der verschiedenen Disziplinen, Konzepte, Therapieverfahren, Erfahrungen und Erfolgen in der Heilkunde nicht gerecht. Jahrtausendealte Verfahren wie die Akupunktur – vielfach von der sog. Schulmedizin belächelt und verworfen – erfahren z. B. durch unvoreingenommene Studien eine Bestätigung als wirksam bei chronischen Schmerzen und Depressionen: https://www.journalslibrary.nihr.ac.uk/pgfar/pgfar05030#/abstract/

Da der Heilpraktiker für Psychotherapie ja nicht invasiv arbeiten darf, wurde von amerikanischen und deutschen Therapeuten die Variante der „Klopfakupressur“ entwickelt, die sich nach verschiedenen wissenschaftlichen Studien insbesondere zur Behandlung von Ängsten und anderen psychischen Störungen bewährt hat:
https://www.ink.ag/shop/buecher-und-schriften/dr.-klinghardt/buecher/15718/handbuch-dermentalfeld-techniken 
https://www.dr-michael-bohne.de/was-ist-pep.html

Die langen Wartezeiten bei ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten bestehen bei Therapeuten der Komplementärmedizin nicht.

Weshalb ist das so? Die Klienten bezahlen ein Honorar, der Therapeut kann nicht über die Krankenversicherung abrechnen. Der Personenkreis, der über einen längeren Zeitraum therapeutische Sitzungen bezahlen kann, ist relativ klein. Die Frequentierung dieser Komplementärtherapeuten erfolgt daher seltener.

Diese Situation trägt dazu bei, dass der nicht ärztliche Therapeut sich sehr viel Zeit für den Klienten nehmen kann. Er kann sich auf jeden Klienten individuell einstellen, die Psychotherapie differenziert vor- und nachbereiten.

Zusätzlich verfügt die Gruppe der Heilpraktiker für Psychotherapie über vielfältige Methoden. Hierin liegt ein hoher Qualitätsvorteil der komplementären Psychotherapie.

Ebenso wie bei approbierten Therapeuten besteht übrigens auch bei diesen Therapeuten eine ständige Verpflichtung zur Weiterbildung.

An welchen Stellen ist die Qualität der Psychotherapie zu bemängeln?

Sicherlich überall dort, wo der therapeutische Fokus nicht ausschließlich auf dem Patienten liegt, d. h. keine hingewandte patientenzentrierte Psychotherapie erfolgt. Ansonsten kann nur meine Sekundärmeinung (Erfahrungen meiner Klienten) beeindruckende Bilder beschreiben.

So wird z. B. kritisiert, dass approbierte Psychotherapeuten häufig keine neuen Patienten annehmen. Diese Situation wird leider durch die Abschaffung der „Neupatienten-Regelung“ noch kritischer werden.

Ebenso bestehen teilweise schlechte Erfahrungen mit Aufenthalten in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. In mehreren Fällen erfolgte das erste ärztliche Gespräch erst nach fünf Tagen Aufenthalt.

Häufig wird als Methode die Gruppentherapie angewendet.

Für viele Patienten stellt das aber eine hohe zusätzliche Belastung dar. Sie müssen sich auch mit psychischen Beschwerden der anderen Teilnehmer auseinandersetzen. Besser wäre eine sensible Selektion der Gruppentherapie-Teilnehmer.

Die dargestellten Fakten erlauben auch die Frage, inwieweit interessengesteuerte Institutionen und rigide Abrechnungsvorschriften gelegentlich den Fokus auf das medizinische Ethos erschweren.

Dringend erforderliche Verbesserungen sind demnach möglich.

Rainer Wieckhorst
Heilpraktiker für Psychotherapie, Therapiepraxis Balance-Concept in Reinbek, Kommunikationsexperte, Publizist

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