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Interkulturelle Kompetenz für die Praxis – Teil 3

2016 03 Inter1

Der Kulturschock und psychologische Stressreaktionen

fotolia©RAWKU5Frau D. aus dem Iran promoviert seit einem Jahr in Deutschland. Zunächst begann alles sehr gut. Ihr Professor war zufrieden. Gesprochen wird meist englisch; so gab es auch keine Sprachprobleme an der Uni. Draußen schon, aber das bekam niemand mit. Die Kommilitoninnen und Kommilitonen wunderten sich zwar, dass Frau D. immer so zurückhaltend war und offensichtlich keinen Kontakt wollte, aber sie ließen sie dann in Ruhe, nachdem sie zweimal erfolglos nachgefragt hatten.

In letzter Zeit leidet Frau D. unter Schlafstörungen, neulich brach sie im Labor plötzlich in Tränen aus und klagte über Herzrasen. Ihr Professor riet ihr, sich durchchecken zu lassen – ohne Ergebnis, alles in Ordnung. Seit einer Woche kommt Frau D. immer später ins Labor. Ihr Professor schickte sie bereits zum psychologischen Dienst der Uni; dort erzählt Frau D., dass sie vielleicht doch lieber wieder nach Hause gehen sollte … Am nächsten Tag erzählt sie im Labor, dass alle gegen sie seien …

Ihr Professor überlegt, ob sie wirklich für eine Promotion in Deutschland geeignet ist, zumal sie sich immer mehr abkapselt. Der psychologische Dienst rät Frau D., weniger zu arbeiten, zu entspannen und unter Leute zu gehen. Frau D. bedankt sich und geht in ihr Zimmer im Wohnheim zurück.

fotolia©GlaserFrau D. kommt aus einem Land mit ausgeprägter Willkommenskultur; eine solche gibt es in Deutschland nicht. Hier wartet man nicht darauf, dass Kontakt an einen herangetragen wird. Man geht auf andere Menschen zu, wenn man neu ist, man stellt sich vor, man kümmert sich selber. Wer dies nicht tut, bleibt allein. Und viele Menschen sind offensichtlich gern allein.

Nicht Frau D., die aus einem Land kommt, in dem kaum jemand freiwillig alleine leben würde, Frauen schon gar nicht; aus einem Land, in dem ein Professor eine hierarchisch hochgestellte Persönlichkeit ist, die man nicht einfach anspricht, von der man aber den Schutz und die Fürsorge eines „Vaters“ erwarten kann, aus einem Land, in dem die Mitbewohner im Studentenwohnheim sie, die Neue, einladen würden, und zwar solange, bis sie irgendwann Ja sagt …

Frau D. ist schlicht einsam; sie droht an dieser Einsamkeit, die ihr niemand erklärt, zu zerbrechen. Denn nach Hause könnte sie auch nicht – zu groß wäre die Schande, der Gesichtsverlust. Wie sollte sie auch diese „Kälte“, die sie empfindet, beschreiben?

Und sie ist auch verzweifelt, weil doch zu Anfang alles so großartig war. Solche Hoffnungen hatte sie in dieses Land und das Studium gesetzt … und jetzt ist sie fremd und allein und einsam und sie empfindet die Deutschen als kalt und unhöflich.

Ali F. ist aus Afghanistan geflohen; seine Familie hatte ihn ausgewählt zu gehen. Für alle hätte das Geld nicht gereicht. Die Schwester, die auch gerne gegangen wäre, traute sich die schwierige Route als junge Frau nicht zu. Zu viel hatte sie über Übergriffe und Schlimmeres auf der Fluchtroute gehört. Die Schande einer Vergewaltigung wäre direkt auf sie zurückgefallen. So lastet die ganze Verantwortung für das Wohl der Familie auf Ali. Er ist 20 Jahre alt, hat Abitur und zwei Semester Maschinenbau studiert. Von Deutschland hat er viel gehört. Er will dorthin und dann seine Familie nachholen, besonders seine Schwester, die so gerne studieren möchte.

Nach fünf Monaten ist Ali endlich in Deutschland angekommen. Er sitzt im Aufnahmelager. Man hat ihm schon signalisiert, dass seine Chancen, einen Aufenthaltstitel zu bekommen, schlecht sind, seine Familie wird nicht nachkommen können, zumindest nicht bald. Arbeiten darf er nicht, sein Abiturzeugnis muss erst geprüft werden. Geld hat er keines mehr. Es ist Ramadan, aber er sieht überall nur fröhliche, feiernde, essende Menschen. Diese trinken Alkohol in aller Öffentlichkeit; selbst Hunde dürfen mit ins Restaurant. Neulich nahm ihn ein Mitbewohner mit zum Strand. Da sah er lauter nackte Menschen.

Ali spricht nicht mehr mit der Sozialarbeiterin, zum Deutschkurs mit der netten alten Dame will er auch nicht mehr.

Der Kulturschock trifft früher oder später beinahe jeden, der sich in andere „Welten“ begibt. Diese können im eigenen Land, quasi „um die Ecke“ liegen, sehr wahrscheinlich aber überall dort, wo kulturelle Unterschiede hart aufeinanderprallen. Der Kulturschock beschreibt einen als schockartig empfundenen Sturz aus der Euphorie in das Gefühl, fehl am Platze zu sein, fremd, nicht dazugehörig. Dem klassischen Einwanderungsland Kanada entstammt deshalb auch der Anthropologe Kalervo Oberg, der ein u-förmiges Kulturschockmodell entwickelte, das 1996 von Prof. Dr. Wolf Wagner um eine fünfte Phase erweitert wurde.

Phase 1 – Die Ankunft: Man kommt erwartungsvoll an, findet alles aufregend und interessant, zumindest akzeptabel.

Phase 2 – Erste Kontaktschwierigkeiten treten auf und man fühlt sich schlecht, vielleicht sogar schuldig deswegen.

Phase 3 – Um im Schuldgefühl nicht zu verharren, wird die fremde Kultur zur „Gegenseite“, man klammert sich an das, was man kennt, die eigene Kultur wird unter Umständen verherrlicht. Daraus resultieren Missverständnisse, die aber in

Phase 4 – Gleichzeitig werden durch die Gegenüberstellung die Kulturen erklärund hinnehmbar gemacht: „Wir haben halt unterschiedliche Kulturen“, „Wir passen eben nicht zusammen“.

Phase 5 – Beschreibt die Überwindung des Kulturschocks: Verständigung findet statt. Unterschiedliche Spielregeln werden verstanden, akzeptiert und oft auch geschätzt.

Symptome eines Kulturschocks können sein:

  • Gefühl der Hilflosigkeit und von Zurückweisung durch andere
  • starkes Gefühl der Fremdheit und dadurch Gefühl von Bedrohung

Diese Gefühle führen unter Umständen zu starkem Heimweh, Frustration, Einsamkeit, Zorn, Wut und Aggressionen, körperlichen Stressreaktionen, Angst, Panik, Depression. Das sind alles Symptome, die wir überhaupt nicht mit der Ursache in Verbindung bringen, weswegen wir dadurch in der Behandlung völlig falschen Ansätzen folgen und zu Schlüssen kommen, die nicht nur nicht helfen, sondern verschlimmern – und mindestens zu zusätzlichem negativen Stressgeschehen führen. Was geschieht nun, wenn jemand ganz alleine ist mit seinem Kulturschock, auf den er überhaupt nicht vorbereitet war, weil er sich alles, was dann kam, gar nicht hatte vorstellen können? Nicht den Schock als solchen, nicht die vermeintlich gänzlich andere Kultur, die man nun nicht verstehen kann? Und das in einem Land wie Deutschland, das mit individualistisch geprägter Erwartungshaltung an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung von jedem Fremden aus einer gruppengeprägten Kultur als hart, kalt und abweisend wahrgenommen werden muss? Und wo ihm niemand je in „seiner Sprache“ Antworten geben kann?

Beispiel: „Letzten Monat war meine Frau so krank; sie aß nicht, sie saß nur da ... und wir mussten den Notarzt holen; zwei Tage war sie in der Klinik. Nun ist aber alles gut; sie hat die richtige Medizin bekommen ...“ Diagnose: Ihre Frau leidet unter Einsamkeit. Sie muss Deutsch lernen, sie muss raus gehen … „Ja, aber ich komme immer erst spät von der Arbeit zurück; aber es geht ihr auch schon viel besser …“

Deutschland ist Deutschland. So ist es hier eben, mag man sagen. Dennoch: Was will ich von und mit dem Fremden? Was ist mein persönliches, was ist das berufliche Ziel, das ich verfolge? Jede Hilfe, jede Therapie ist nur so gut wie die Diagnose, und diese nur dann erfolgreich, wenn sie kulturspezifische Besonderheiten berücksichtigt. Eine davon ist, dass psychotherapeutische Ansätze in vielen Ländern der Welt überhaupt keine Tradition haben. Eine andere ist z. B. die in vielen mittel- und fernöstlichen Ländern gelebte Lebenswirklichkeit, in der Frauen nicht so zwanglos in der „Außenwelt“ verkehren (können und dürfen), wie es hier geradezu von ihnen gefordert wird, wenn sie erfolgreich ankommen wollen. Männer im Übrigen auch nicht, besonders nicht im Umgang mit fremden Frauen.

Schock geht davon aus, dass er ansonsten völlig Gesunde befällt, die mit einer plötzlich auftretenden neuen Situation nicht adäquat umgehen, sich aber im Laufe der Zeit anpassen können. Es kommen derzeit hingegen überwiegend Menschen aus ganz fremden Lebenswelten und es kommen Flüchtlinge und Asylsuchende. Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt: Krieg, Hunger, Vertreibung, massive Unterdrückung, Vergewaltigung, Mord, Naturkatastrophen ... sie sind oft traumatisiert und leiden unter den vielfältigsten Störungen. Und wir erwarten eine „einwandfreie“, unserem Kulturkreis angemessene Verhaltensstruktur. Das kann nicht funktionieren.

Deshalb noch ein Wort zu psychologischen Stressreaktionen. Diese sind von der individuellen Wahrnehmung der Umwelt und somit von der daraus folgenden kognitiven Bewertung eines Stressors abhängig. Der Mensch versucht sich im Falle eines „Angriffs“ durch einen Stressor (... fremdes Land, andere Kultur, andere Sprache) mit dem Stressfaktor auseinanderzusetzen und sucht eine Anpassungsmöglichkeit, die sein Wohlergehen sichert. Reicht das nicht aus, durchforstet er im zweiten Schritt seine Ressourcen, um mit der Stresssituation besser umgehen zu können. Diesem Schritt folgt eine Neubewertung, im Idealfall eine positive, dem persönlichen Wohlbefinden förderliche Bewertung.

Damit diese Schritte keine krank machende Richtung einschlagen, die Akzeptanz eines negativen emotionalen Zustands und gegebenenfalls Rückzug bedeutet, muss ihm dabei geholfen werden. Deshalb sind auch alle Aspekte zu berücksichtigen, die zu diesem Stressgeschehen beigetragen haben. Das wiederum geht nur, wenn die Menschen, die mit Personen aus anderen Kulturkreisen arbeiten, zumindest so viel von grundsätzlichen kulturellen Unterschieden verstehen – und unter Umständen sogar von länderspezifischen – dass sie mit ihnen angemessen umgehen können.

Wenn erst einmal eine Basis zur Verständigung geschaffen ist, kann darauf sehr gut aufgebaut werden. Das kann dann auch ruhig auf die „typisch deutsche“ Weise geschehen.

Carola SeelerCarola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin, Coach, Buchautorin

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