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Unsere Sehnsüchte sind unsere Möglichkeiten

2016 03 Was1

Manchmal begegnen wir im Leben einem Menschen, von dem wir vom ersten Moment an nicht lassen können. Er zieht uns unerbittlich in seinen Bann. Obwohl wir intuitiv spüren, dass aus der ersehnten gemeinsamen Reise womöglich eine schmerzliche – obgleich unentbehrliche – Reise ins Ich wird.

fotolia©ricardoferrandoBei der ersten Verabredung mit ihm brach mein tiefes Sehnsuchtsverspüren aus. Ein mächtiges und zugleich ohnmächtiges Gefühl, das mein Leben von diesem Tag an leicht und schwer zugleich machte. Wie beschwingt ich mich fühlte, wenn er bei mir war. Umso betrübter war ich, wenn er von mir ging. Vermutlich provozierte gerade das Wissen um die Endlichkeit unserer Verbindung die Unendlichkeit meiner Sehnsucht.

Wir Menschen wollen lieben, damit sich unsere Sehnsucht erfüllt. „Denn wer liebt, ist voller Sehnsucht und findet nie ruhigen Schlaf, sondern zählt und berechnet die ganze Nacht hindurch die Tage, die da kommen und gehen“ (aus: „Botin der Königin“ von Yvain Chrétien de Troyes). Dabei sind die Hintergründe unserer Sehnsucht meist viel älter als unsere akute Seelenstimmung. Nichtsdestotrotz sind unsere überwältigenden Verliebtheitsgefühle der Startschuss dafür, dass unsere Sehnsuchtsfantasien zu irrlichtern beginnen. Die Sehnsucht treibt uns um. Aber treibt sie uns auch an?

Immer dann, wenn wir das schmerzliche Ziehen in der Brust verspüren, wird uns bewusst, dass unser Leben nicht perfekt und unser Lebenshunger und unser Liebesdurst nicht gestillt sind. Dem konkreten Verlangen geht das Sehnen voraus und leitet das Suchen an, das in der „Sehnsucht“ mitschwingt. Der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann beschreibt die Sehnsucht als „schlafenden Riesen“, der jederzeit aufwachen kann (mein Riese Sehnsucht in mir hat offenbar akute Schlafstörungen!).

Wenn wir unsere Sehnsucht verwirklichen wollen, müssen wir sie als solche erst einmal erkennen. Meist bezieht sich die Sehnsucht auf die elementaren Grundmotive des Lebens: Liebe, Familie, Gesundheit, Heimat, Ferne, Selbstverwirklichung, verpasste Chancen. Sehnsüchte sagen viel über den Menschen, dessen Kultur, Denken und Fühlen aus. Insofern ist eine Geschichte der Sehnsucht immer zugleich auch ein Psychogramm des Menschen. Das zehrende Gefühl stiftet uns im Idealfall dazu an, unserem unvollkommenen Leben eine neue Richtung zu geben, uns neue Ziele zu setzen und zu hoffen, diese wahr werden zu lassen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Von der Dimension der Wirklichkeit zur Dimension der Möglichkeit …

Ob es sich als Heimweh äußert, als Fernweh oder als heftiges Verlangen nach Menschen oder Dingen, die ebenso begehrt wie unerreichbar sind – das Sehnsuchtsgefühl ergreift uns Menschen von jetzt auf gleich. Erst in dem Augenblick, als Paul Gauguin Edouard Manets Bild „Olympia“ sah, wurde ihm urplötzlich seine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Kunst bewusst. Aus dem erfolgreichen Makler wurde ein (zumindest zu Lebzeiten) erfolgloser, aber in seiner Sehnsucht durchaus erfüllter Maler. Seiner zweiten großen Sehnsucht nach der Ferne folgte er einige Zeit später, als er mit 43 Jahren nach Tahiti ging. Goethes rastloser Faust schließt sogar einen Pakt mit dem Teufel, um seine Suche nach Liebe und seine tiefste Sehnsucht nach Erkenntnis über sich und die Welt zu stillen. Wie weit können oder müssen wir gehen, um unserer ureigenen Sehnsucht gerecht zu werden?

Das Gefühl namens „Sehnsucht“ ist ein urdeutsches Konzept in Literatur, Kunst und Geisteswissenschaften. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses betrüblich-schöne Empfinden für die Psychologie, ja überhaupt für die Wissenschaft, bislang kaum ein Thema war. Erst in jüngster Zeit sucht sie nach Hintergründen für das Sehnen.

Der 2006 verstorbene Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Paul Baltes, unternahm in seinen letzten Lebensjahren erstmals den Versuch, Sehnsucht aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive zu erfassen. Ein extrem unkonventioneller Schachzug in der Wissenschaft, da sich dieses knifflige Gefühl weder in Schablonen noch in Zahlen oder Studien pressen lässt. Offenkundig trieb den Wissenschaftler seine eigene Sehnsucht: Der neu etablierten Sehnsuchtsforschung verschrieb er sich kurz nach dem Tod seiner Frau mit der Überzeugung, dass Menschen die Sehnsucht gezielt suchen, um Verlorenes dennoch im Leben zu bewahren. Ihm folgend lässt sich das Sehnsuchtsgefühl anhand von sechs Kriterien beschreiben: • persönliche Utopie • gefühlte Unvollkommenheit des eigenen Lebens • symbolische Bedeutung • Dreizeitigkeit • bittersüße Gefühle • Reflexion und Bewertung.

Sehnsucht entsteht aus einer persönlichen Utopie, und zwar dann, wenn sich zur Fantasie eines idealen Lebens die Erkenntnis hinzugesellt, dass selbiges sehr schwerlich bis unmöglich zu erreichen ist. Dass die persönlichen Utopien zwangsläufig zu Gefühlen der Unvollkommenheit des eigenen Lebens innerhalb der Sinnsuche führen, ist naheliegend und das eigentliche Sehnsuchtsdilemma.

Die Literaten der Romantik im frühen 19. Jahrhundert haben die Sehnsucht zu ihrem Programm gemacht. Sehnsucht ist das romantische Gefühl par excellence! Mit den Romantikern wandelte sich das Verständnis des Sehnsuchtsbegriffs zum Positiven hin. Während das Grimm´sche Wörterbuch in ihr noch die „Krankheit des schmerzlichen Verlangens“ sieht, preisen die literarischen Romantik-Revoluzzer die Sehnsucht als lebenslangen Entwicklungshelfer für den Menschen, selbst wenn das eigentlich angepeilte Objekt (oder Subjekt) der Begierde unerreichbar bleibt. Hier treibt die berühmt-berüchtigte „blaue Blume“ des Dichters Novalis (in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“) ihre Blüten. Sie gilt als das Symbol der Romantiker für die Sehnsucht nach der vollkommenen Liebe – wenn auch total außer Reichweite.

Ein fernes Ziel des schwärmerischen Suchens, das sich aus dem Hier und Jetzt speist, sich nach dem fremden anderen verzehrt, jedoch nicht unmittelbar befriedigt werden kann. Stichwort Dreizeitigkeit: Sehnsucht ist auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart und auf die Zukunft ausgerichtet. Sie gilt künftigen Zeiten in Form von Utopie und vergangenen Zeiten in Form von Nostalgie, ausgehend vom Unruhe stiftenden Hier und Jetzt in seiner Dramaturgie. Auch die prominenten Schreibhelden, angefangen von Johann Wolfgang von Goethe bis hin zu Joseph von Eichendorff, trieb die Sehnsucht aufs Brutalste an, die den Poeten seine erlesensten Gedichte schreiben ließ. Treffend bezeichnet der spätromantische Dichter den Menschen als „Homo viator“, als Reisenden unterwegs durch die Welt zum ewigen Zuhause. Schriftsteller, Maler und Künstler betonen seit jeher das schöpferische Potenzial der Sehnsucht, die sie zu Höchstleistung antreibt – und im stillen Kämmerlein zu Tränen rührt …

Bittersüß schmeckt die Sehnsucht nämlich in ihrem Wesen. Zweifelsohne ist sie ein gemischtes, ja zwiespältiges Gefühl. Bitter aufgrund des Wissens um die Aussichtslosigkeit des Ziels, süß wegen der Gestaltungskraft des Ersehnten. Kurzum: Eine beglückende Fantasie steht meist der Unerreichbarkeit ebendieser gegenüber. All die sehnsüchtig Sehnsuchenden unter uns sind sich vermutlich darüber einig, dass dieser Gemütszustand das Risiko der Melancholie birgt. Diese Grenzüberschreitung geschieht genau dann, wenn fruchtbar zu furchtbar wird, dass Bittere das Süße überwiegt und die Sehnsucht für uns Suchende nicht mehr kontrollierbar ist. Ungeachtet dessen scheinen wir Himmelsstürmer und Seelentieftaucher den sehnsüchtigen Ausnahmezustand ohne Rücksicht auf Verlust und Frust gezielt zu suchen.

Wir richten uns systematisch in unserer Sehnsucht häuslich ein, indem wir uns in das süße Gefühl der Bitterkeit stürzen: sehen einschlägige Filme, hören stimmige Musik, lesen gebührende Bücher oder Gedichte – Sehnsucht de luxe von A bis Z. All diese Manöver stillen vorläufig die pure Sehnsucht nach der wahren exklusiven, ja ewigen Liebe, von der wir Zuschauer, Hörer und Leser im Hinterstübchen ahnen, dass es sie in der Alltagswirklichkeit – zumindest in dieser heilsversprechenden Hochpotenz – nicht gibt. Mit anderen Worten: Wir verspüren Lust am Leid und leiden zugleich an der Lust.

Reflexion und Bewertung: Trotz aller unausweichlicher Dramatik und normaler Tragik hat die Sehnsucht, in der Liebe Großes anzustreben, ihren tieferen Sinn. Ohne unsere Liebessehnsüchte fühlen wir uns gar nicht richtig lebendig. Die mutige Unvernunft soll unser „So-lala-Leben“ aus dem Mittelmaß herausbefördern und ihm neue Dimensionen verleihen. Wir können dabei scheitern, wir können ausgenutzt und betrogen werden. Wir können uns mit Selbstvorwürfen selbst anklagen, weil wir tatsächlich glaubten, das Unmögliche möglich zu machen. Wir können jedoch auch die Haltung einnehmen, lieber am Großen zu scheitern, als in kleinmütiger Absicherung zu verkümmern. Schließlich kann sich das Risiko, seiner Sehnsucht zu folgen, auch lohnen, und das Unmögliche möglich werden!

Das nötige geistige Rüstzeug für das Sehnsuchtsverspüren schlägt – sofern es überhaupt aus- und um sich schlägt – erst im Jugendalter Wurzeln. Um Sehnsucht zu entwickeln, müssen wir über unser eigenes Leben sinnieren können, Erfahrungen gemacht haben und versiert im reflektierenden „Was-wäre-wenn-Denken“ sein. Wer sich selbst verstehen will, sollte seine Sehnsüchte verstehen. Andersrum formuliert: Wer nicht über sich selbst nachdenkt und den persönlichen Istzustand bewertet, kennt keine Sehnsucht. Erst 15- bis 16-Jährige sind in der Lage, konkrete Sehnsüchte zu benennen. Die Blüte der Sehnsuchtsfähigkeit ist vollends im jungen bis mittleren Erwachsenenalter erreicht.

Die Sehnsucht, so die derzeitige Forschungsbilanz, erfüllt wichtige Funktionen: Einerseits hilft sie uns dabei, mit der eigenen Unfertigkeit, dem nicht makellosen Leben und mit blockierten Lebenswünschen umzugehen. Andererseits kann sie in Ziele übersetzt werden und unserem eingefahrenen Leben eine komplett neue Richtung verleihen. Nach dem Motto: Wer seinem Leben eine neue Richtung geben möchte, braucht keine Flügel. Die Sehnsucht nach etwas reicht für einen Wandel aus. Ohne die Sehnsucht wären wir Menschen nicht, was wir sind: immer zum Aufbruch in neue Sphären bereit, getrieben vom Bedürfnis, über unser jetziges Dasein hinauszugehen.

Sehnsucht treibt uns also nicht nur an, sondern sie treibt uns aus uns und über uns hinaus! Wer glaubt, dass die sehnsüchtige Leidenschaft endgültig stillbar ist, der liegt voll daneben. Erfüllung kann es dauerhaft gar nicht geben, da es Entbehrungen immer geben wird. Die Sehnsucht bricht also immer wieder von Neuem auf. Nicht Endstation Sehnsucht lautet die Ansage, sondern Zwischenstation. Sehnsucht hält uns lebendig!

Wenn wir eines Tages Vollprofis in Sachen Sehnsucht sind und gelernt haben, mit dem durchdringenden Gefühl virtuos umzugehen, dann genießen und bewahren wir unsere persönliche Utopie, die uns stets aufs Neue in Bewegung setzt. Allein die Vorstellung, wie unser Leben sein könnte, bestäubt uns mit frischem Elan, es ebenso zu gestalten.

Das Schöne an der Sehnsucht ist, dass sie eine freudige Hoffnung auf neue Chancen und damit auch auf Erfüllung birgt. Mit der positiven Energie, die sie freisetzt, und den Möglichkeiten, die sie uns in Aussicht stellt, ist die Sehnsucht für Höhepunkte unseres Lebens unverzichtbar.

Unbestritten:
Die Sehnsucht ist eine Kraft, die unsere Gefühle veredelt und unser Leben höchst spürbar macht.

Conny ThalerConny Thaler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Yogatherapeutin, Kommunikationswissenschaftlerin, Psychologin (M. A.), Buchautorin

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