Paul als Signalgeber für tiefere Familienkonflikte
Fallstudie
Die Mutter eines achtjährigen Paul kam besorgt zu mir in die Praxis, weil ihr Sohn in der Schule unerklärlich in den Leistungen abgefallen war und die Lehrer sich beschwerten, dass er andere Kinder grundlos schlage. Die Eltern hatten soweit möglich herausgefunden, dass vermutlich die Ursache in einem alten Trauma bestand. Vermutet wurde ein Jahre zurückliegendes Hochwasser, bei dem die Familie fast das Haus verloren hätte.
Der erste Termin mit Paul (Name geändert) fand zur Hälfte im Beisein seiner Mutter statt. Dies zeigte mir, wie die beiden miteinander kommunizierten und umgingen. Danach kam Paul alleine zu den Terminen. Zunächst habe ich Paul jeweils das für ihn wichtigste Ereignis der Woche malen lassen. Hierbei kam jede Woche der Schulpausenhof zu Papier, mit immer den gleichen anderen Schülern. Diese waren sehr groß dargestellt. Als ich Paul aufforderte, sich selbst im Bild festzuhalten, kam er jeweils winzig klein vor. Dabei ist Paul ein für sein Alter sehr großer und stämmiger Junge, mit einigen Kilo zu viel.
Nach einigen Sitzungen und Rücksprache mit der Lehrerin zeigte sich, dass entgegen Pauls Schilderungen nicht die anderen Jungen und ein Mädchen ihn angriffen und schlugen, sondern Paul vermeintlich grundlos auf die anderen einschlug. Da der Sachverhalt des Leistungsabfalls diffus war, bestellte ich die Eltern ein. Hierbei stellte sich heraus, dass es massive Eheprobleme gab. Die Mutter dachte an Scheidung, was den Vater schockierte, da er diesen Gedanken seiner Frau zum ersten Mal in der Sitzung bei mir erfuhr, und er in Tränen ausbrach.
Drei Paarberatungssitzungen – eine davon jeweils als Einzeltermin – kristallisierten heraus, dass die Kommunikation in der Familie fehlte. Jeder meinte zu wissen, was der andere dachte. Es wurde außer dem unbedingt Nötigen nicht miteinander gesprochen. Die Ehepartner waren morgens sofort nach dem Aufstehen und abends bis zum Einschlafen (Schlafzimmer!) mit Computerspielen und Facebook-Posts auf ihren Smartphones beschäftigt. Sie kümmerten sich nicht um Paul, sprachen nicht mit ihm und nicht miteinander.
Es war klar, hier hatte nicht allein Paul ein Problem, sondern die ganze Familie. Wie sich herausstellte, bezog dies auch den Großvater mit ein.
Dieser war bis dahin Pauls einzige konstante Bezugsperson in seinem Leben. Paul wird von ihm von der Schule abgeholt und verbringt die meiste Zeit nach der Schule bei ihm, da beide Eltern berufstätig sind.
Mir war schnell klar, dass Pauls Aggressionen ein Hilferuf nach Zuwendung waren. Das Mädchen, das er schlug, mochte er sehr und wollte eine tiefe Freundschaft zu ihr. Ebenso verhielt es sich mit den anderen Jungs. Als er mir die verschiedenen Emotionen, die er kennt und fühlt, zeigen soll, reagiert er ratlos. Nach einigem Überlegen sagt er einen Satz, den ich wohl niemals werde vergessen können, zumal er von einem erst Achtjährigen gesagt wurde. Pauls Worte waren:
„Frau Henrich, ich habe Angst vor mir selbst.“
Paul hatte nie gelernt, mit seinen Emotionen umzugehen oder diese zu zeigen. Warum? Weil seine jungen Eltern lieber im Internet surften und Computerspiele spielten, als sich miteinander und mit ihrem Kind auseinanderzusetzen. Durch die emotionale Kälte seiner Eltern zueinander und ihm gegenüber hatte er nicht gelernt, Liebe und Zuneigung auszudrücken – geschweige denn mit diesen Emotionen umzugehen. Und so brachen sich die in ihm angestauten Emotionen Bahn durch Schlagen auf dem Pausenhof. Er wusste sich nicht anders auszudrücken.
Nachdem ich den Eltern das Problem auseinandergesetzt hatte, war auch die Ehe wieder ins Lot gebracht. Sie erkannten, dass ihr Kind wichtiger ist als Computerspiele und Facebook-Freundschaften. Und dass ein Kind durch Vorleben und Nachahmen lernt und sie ihre Emotionen zueinander und untereinander offen zeigen müssen.
Doch da war noch Pauls Angst vor Regen. Zwei Tage Regen und Paul verfiel in eine Art Hysterie, dass das Haus der Eltern wegschwimmt. Die Bilder, in denen er diese Angst ausdrückte, zeigten, wie sein Fußball davonschwimmt. Er hat tagelang später nach dem Ball gesucht. Vergeblich. Nach Rücksprache mit den Eltern stellte sich heraus, dass tatsächlich fast der gesamte Hausstand weggeschwommen ist und ein Großteil des Inventars zerstört war.
Also ließ ich mir eine positive Auflösung einfallen und habe eine Geschichte erfunden, in der sein Fußball eine Weltreise macht und viele spannende Abenteuer erlebt. Dann habe ich ihm versichert, dass er eines Tages seinen Fußball irgendwo an einem Strand wiederfinden wird. Das hat ihn nicht nur beruhigt, sondern nun freut er sich darauf, irgendwo am Wasser einen Ball zu finden.
Zu denken, damit sei seine Angst wirklich beseitigt, war allerdings ein Trugschluss. Ich habe nochmals den Großvater einbestellt. Von ihm habe ich mir dann seine Version der Hochwasserkatastrophe schildern lassen. Das ergab dann noch einmal eine völlig andere, viel tiefgreifendere Perspektive des Katastrophentags. Denn der Nachbar, den der Großvater mit dem Traktor vor den Fluten retten wollte, ist ihm entglitten und ertrunken. Daraufhin hat der Großvater einen Herzinfarkt bekommen, da er sich die Schuld am Tod des Nachbarn gab.
Der kleine Paul hatte dies alles mitangesehen, doch nur das Bild von seinem Fußball, der von den Fluten mitgerissen wurde, war in seinem Gedächtnis repräsentativ hängen geblieben. Paul lebte also die Sorge und Schuld des Großvaters mit aus, da er sehr eng mit ihm verbunden ist. Die häufig wiederholten Schuldzuweisungen des Großvaters an sich selbst, unbedachte Äußerungen, haben dies in Paul wieder und wieder bestärkt.
Letztendlich habe ich über die energetische Ebene und Reiki mit Paul gearbeitet, um Blockaden aufzulösen (zwei Sitzungen Reiki, P.E.R.G. und zwei weitere mit Kinesiologie). Paul selbst hat mehrfach um zehn Minuten Kinesiologie und Reiki gebeten. Offenbar hat er gefühlt, wie gut beides ihm tut. Zum Schluss habe ich noch mit EMDR den Rest der traumatischen Erfahrung in Verbindung mit Regen, Wasser (Klangtherapie/Farbtherapie/Qigong) und seinem Fußball beseitigt.
Nicht ohne Stolz kann ich heute sagen, dass Paul zu den Klassenbesten gehört. Er hat wieder Freude am Lernen, hat echte Freunde, die ihn akzeptieren, eine Freundin, seine erste Liebe, er hat abgenommen und seine Eltern lassen sich nicht scheiden, sondern wollen noch ein Kind. Der Großvater ist sich heute bewusst, wie seine Aussagen und Worte auf seinen Enkel wirken und was sie in einem Kind auslösen können. Er ist bedachter in seiner Wortwahl.
Was habe ich bei diesem Fall lernen dürfen? Ich habe gelernt, wie zerstörerisch „soziale Netzwerke“ sein können. Sie unterbinden die Kommunikation in Familien und können emotionale Störungen und Vereinsamung verursachen. Wie sich am Fall von Paul zeigt, hat er seine gesamte Familie geheilt. Denn wäre er nicht auffällig geworden, hätte sich seine Mutter scheiden lassen und sein Großvater hätte sein Trauma nicht überwunden.
Als Therapeut ist es nicht einfach, Kinder dazu zu bringen, über ihr Problem/ihre Angst zu sprechen. Meine Erfahrung zeigt, es geht am besten, wenn Kinder abgelenkt sind. Hierzu verwende ich eine kreative spielerische Variante, die ich in meinem Buch „Fairy Gardens“ (Bastelbuch) veröffentlicht habe. Dazu gehe ich mit Kindern in die Natur, was auch in der Großstadt möglich ist. Es wird eine Art von Achtsamkeitstraining ausgeführt. Wir sammeln alles, was wir brauchen, d. h., es muss nichts für das kreative Gestalten gekauft werden. Die Behälter, die benötigt werden, geben die Mutter/der Vater dem Kind mit. Während der kreativen Phase spreche ich dann mit dem Kind über sein Problem/seine Angst.
Im Übrigen kommen die Kinder so richtig gerne, weil sie erstens merken, dass sie als Persönlichkeit ernst genommen werden, und weil sie sich zweitens kreativ mit Spaß ausdrücken dürfen.
Mein Bastelbuch findet auch in der Therapie und Arbeit mit Alzheimer- und Demenzpatienten guten Anklang, da es einfach umzusetzen ist und den meisten der Patienten hilft, sich an ihre Kindheit zu erinnern.
Ruth Henrich
Business- und Management-Coach, interkultureller Coach, zertifizierte Burnout-Beraterin
Pressestimme zum Thema
Eltern achten beim Badeausflug eher auf ihre Smartphones als auf ihre Kinder – der Griff zum Handy im Schwimmbad ist riskant
Das berichtet die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung”. Michael Schad vom Bundesverband Deutscher Schwimmmeister kritisiert, viele Eltern sähen Schwimmbäder als eine Art Kita an. Der FAS sagte er: „Sie kommen mit einer hohen Erwartungshaltung und glauben, die Verantwortung für ihre Kinder mit dem Kauf eines Tickets an das Badepersonal abzugeben.” Um sich in Ruhe dem Smartphone widmen zu können, ließen manche Eltern ihre Kleinkinder zudem von Geschwistern beaufsichtigen, die selbst noch nicht richtig schwimmen könnten. Sie nähmen damit Badeunfälle in Kauf. „Manche Eltern reagieren dann verständnislos oder gar mit wüsten Beschimpfungen, wenn wir sie darauf ansprechen”, sagte Schad. Der Schwimmmeister gibt auch den Kommunen eine Mitschuld an dem Trend. Der FAS sagte er, viele von ihnen würden darauf drängen, dass in den Bädern kostenloses WLAN bereitgestellt wird. Schad und der Schwimmmeisterverband haben ein Piktogramm entwickelt, das Eltern an die Aufsichtspflicht für ihre Kinder erinnern soll. Es zeigt ein durchgestrichenes Handy. „So stellen wir sicher, dass jeder Badegast das versteht, egal welche Sprache er spricht”, sagte Schad der Zeitung.
25. August 2018
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