Alles über Logopädie, Teil 2, Stottern
„Sprich doch mal ordentlich!“ ist wohl der am wenigsten hilfreiche Satz, den man einem stotternden Menschen an den Kopf werfen kann. Denn so einfach ist das für die Betroffenen nun mal nicht.
Stottern ist eine ernst zu nehmende Kommunikationsstörung, die durch unwillkürliche und situationsabhängige Redeflussstörungen gekennzeichnet ist. Die Symptome dieser Störung sind umfangreich und emotional belastend. Jeder hat wohl schon mal die klassischen Kernsymptome bei einem Stotterer wahrgenommen, also entweder Dehnungen („Mmmmmmaus“) oder Wiederholungen von Lauten („K-K-Katze“), Silben („Hu-Hu-Hund“), einem Wort (ein „Vogel-Vogel-Vogel“) oder Prasen („oder die-oder die-oder die Schnecke“) oder auch Blockierungen („Mein Name ist ... Paul“).
Das Stottern manifestiert sich jedoch auch in den Bereichen Atmung, Stimmgebung und Artikulation und häufig kommt es zu vielen Begleiterscheinungen wie hoher Körperspannung, Zwinkern oder Grimassieren, welche es den Sprechern noch schwieriger machen, ihre Gedanken zu verbalisieren. Deshalb entwickeln sie oft Strategien, um ihre Problemzonen zu umgehen. Diese reichen von Ausweichsätzen wie „Ich nehme 3 Brötchen und 2 dazu“ über Füllwörter wie „nämlich, so, hä, sozusagen“ bis hin zu sog. Startern, die helfen sollen, den Worteinstieg zu finden (z. B. Klopfen oder Stampfen).
Doch leider ist es auch so, dass viele Stotterer sich aufgrund ihrer Redeflussstörung zurückziehen, Unterhaltungen vermeiden oder aus diesen flüchten. Nicht selten stehen sie unter starkem innerlichen Druck, der sie psychisch belastet und depressiv macht. Sie suchen dann gern Zuflucht in symptomfreien Bereichen wie Singen, Fremdsprachen, Fluchen oder Selbstgesprächen.
Laut aktueller Studien stottern circa 5 % der europäischen Kinder, von denen glücklicherweise 75 % das Stottern ohne Therapie überwinden können. Es bleibt also nur 1 % übrig, der bis ins Erwachsenenalter hin nicht symptomfrei werden kann. Für Eltern, deren Kind die Diagnose „Stottern“ erhält, ist die Hoffnung also groß, dass es nichts Langfristiges werden muss. Wie auch bei vielen anderen logopädischen Störungsbildern ist die Devise „je früher, desto besser“ der größte Garant für eine erfolgreiche Therapie. Jedoch ist nicht jedes Stottern gleich Anlass zur logopädischen Behandlung wie folgendes Beispiel zeigt:
Meine eigene Tochter fing schon sehr früh an zu sprechen. Schon mit zehn Monaten entdeckte sie, dass sie ihr Umfeld mit Worten wie „Mama, Auto, Ball“ verzückt, und war begierig, so schnell wie möglich mehr zu sprechen.
Schon mit eineinhalb Jahren sprudelten ganze Sätze aus ihr heraus und mit knapp zwei Jahren fing sie auf einmal an zu stottern. Sie zeigte Wiederholungen von Lauten und Wörtern vor allem an den Satzanfängen.
Die besorgte Mama in mir hörte nicht auf das gelernte Fachwissen in meinem Kopf und so wandte ich mich an eine erfahrene befreundete Logopädin, die mir den Wind aus den Segeln nahm und meinte, ich soll das mal ein halbes Jahr beobachten. Wenn es dann nicht weg ist, könnte ich es untersuchen lassen. Meine Tochter stotterte noch einige Wochen, was ihr jedoch nichts ausmachte. So ließ ich es auch unkommentiert und am Ende verschwand dieses „Entwicklungsstottern“ von ganz allein.
In den logopädischen Praxen landen dann aber nun auch die Kinder, bei denen es eben nicht aufhört, und die besorgten Eltern fragen uns im Erstgespräch meistens nach dem Warum. In den Köpfen der Menschen sind noch die alten Vorurteile verhaftet, wenn es ums Stottern geht. Das Kind gibt sich einfach nicht genug Mühe oder hat was ganz Traumatisches erlebt, vielleicht sogar in den eigenen vier Wänden? So haben betroffene Eltern oftmals Angst, man könnte mit dem Finger auf sie zeigen oder sie sogar der Gewalt am eigenen Kind bezichtigen.
Dass diese Vorurteile haltlos sind und man das Stottern nicht korrigieren kann, indem man dem Kind immer wieder auf die Finger haut, ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, und es ist Aufgabe des behandelnden Therapeuten, den Eltern diese Ängste zu nehmen und sie zu motivieren, gemeinschaftlich an der Störung zu arbeiten.
Die genauen Gründe, warum ihr Kind stottert, kann der Therapeut nicht sagen, aber oftmals liegt eine genetische Komponente vor. Das Stottern ist also meistens angeboren und weder die Eltern noch das Kind können etwas dafür. Tatsächlich gibt es unzählige Theorien, wie und warum Stottern entsteht. In den letzten zehn Jahren haben Forscher allerdings bemerkenswerte Entdeckungen gemacht, denen zufolge die Hauptursache im Großhirn liegt und der Stotterer seine Sprechmuskulatur schon ansteuert, bevor die Planung der Wörter und Sätze abgeschlossen ist. Die forschenden Neurowissenschaftler behaupten also, dass stotternde Menschen ihr Hirn anders nutzen als nicht stotternde. Sie vermuten, dass bestimmte „normale“ Verbindungen, in dem Fall die zwischen dem Wernickeund dem Broca-Areal des Hirns, beim Stotterer nicht ausreichend ausgebildet sind und es deshalb zu Problemen beim Sprechen kommt.
Mithilfe von MRT-Aufnahmen fanden die Forscher heraus, dass die Betroffenen deshalb die rechte Hirnhemisphäre, in der auch das Wernicke-Areal liegt, kompensatorisch mehr nutzen, obwohl dieses gar nicht ausreichend dafür spezialisiert ist. Das führt dann dazu, dass die Mund-, Stimm- und Atemmuskulatur fehlerhaft angesteuert wird. Die Wissenschaftler haben einen Weg gefunden, um dieses Durcheinander von Sinneswahrnehmung und Muskelsteuerung zeitweise zu normalisieren. Da dieser Effekt leider nicht von Dauer ist, muss die Therapie wohl lebenslang weitergeführt werden.
Aufgrund dieser Erkenntnisse gibt es viele Möglichkeiten, wie der Logopäde mit dem Patienten an seiner Redeflussstörung arbeiten kann. In erster Linie ist es wichtig, auch das Umfeld des stotternden Kindes aufzuklären und zur Mithilfe zu motivieren. Mit dem kleinen Patienten werden dann die Symptome spielerisch erarbeitet.
So nutzt man bildliche Beispiele für die Kernsymptome, also den Frosch für Wiederholungen, die Schlange für Dehnungen und für Blockierungen den kleinen dicken Bären, der mit seinem Honigtopf im Baumloch stecken bleibt. Das Kind kann so seine eigenen Symptome entdecken und sich langsam damit identifizieren.
Durch verschiedene Techniken, wie rhythmisches Sprechen, weichen Stimmeinsatz oder Zeitlupensprechen, bekommt der Patient die Hilfe, um in der Therapie symptomfrei sprechen zu können.
Sollte sich bereits eine gewisse Sprechangst manifestiert haben, wird auch diese in der Therapie thematisiert und z. B. mit Angsthierarchien oder mit In-vivo-Training bearbeitet. Das heißt, innerhalb der Therapiestunde werden Situationen, in denen das Stottern am stärksten auftritt (z. B. beim Telefonieren), besprochen, geplant und geübt. Auch für den Alltag werden gemeinsam mehr und mehr Bewältigungsstrategien entwickelt und im besten Fall wird die Sprechfreude wieder geweckt. Rückfälle sind jederzeit möglich und es ist wichtig, dass der Patient weiß, wie er sich da selbst „rausholen“ kann und dass er daran nicht verzweifeln muss.
Aber was können Sie als Familie, Angehörige und Freunde tun, um den Stotterer zu unterstützen? Hierzu habe ich eine Freundin befragt, die ihre Stotterproblematik bis ins Erwachsenenalter nicht ganz überwinden konnte. Ich wollte von ihr wissen, wie man als Gegenüber am besten auf Stottern reagiert, was angebracht und was weniger hilfreich ist.
Dazu gab sie mir folgende überraschende Antwort: „Reagieren? Möglichst gar nicht, einfach zuhören wie bei anderen Menschen auch. Wo die Meinungen auseinandergehen, ist beim Helfen. Eigentlich soll man es nicht, aber mir persönlich ist es ganz recht, wenn ich an einem Wort ganz besonders festgefahren bin, dass ein anderer es für mich ausspricht, wenn er es schon weiß. Ich fühle mich nämlich nicht wohl dabei, nicht voranzukommen, und will da schnell raus. Tipps von anderen à la langsam reden! Nicht so hektisch! Wir sind doch unter uns, was bist du denn so aufgeregt? sollte man sich verkneifen, denn das stresst nur zusätzlich und macht es nicht besser.
Außerdem sollte man den Betroffenen nicht darauf aufmerksam machen, dass er stottert. Man ist ja nicht blöd und weiß um sein Problem!“
So kann man abschließend nur wieder einmal feststellen, dass ein offenes und ehrliches Miteinander die Kommunikation erleichtert und die Situation für den Stotterer deutlich stressfreier wird, wenn man als Gegenüber fragt, wie man denn helfen kann.
Teil 3 folgt.
Steffi Richter
staatlich geprüfte Logopädin, Fachausbildungen in Craniosacraler Logopädie und Autismustherapie mit den Schwerpunkten Kindersprache und Stimmtherapie
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