Suchtmittel sind allgegenwärtig
Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht: Typen, Entstehung, Verlauf, Therapie Wir alle können süchtig werden – niemand ist gefeit. Und jeder Suchtkranke kann zurück in ein suchtfreies Leben finden – niemand ist zur Abhängigkeit verdammt.
Doch so leicht jemand in eine Abhängigkeit hineinschliddert, so schwer ist es häufig, alleine aus der Sucht herauszufinden. Bei den meisten stoffgebundenen Süchten ist eine ärztliche Begleitung, oft ein stationärer Aufenthalt zur Entgiftung unumgänglich. Lebensbedrohliche Entzugssymptome können z. B. die Alkoholentgiftung verkomplizieren. Hier ist Aufklärung wichtig. Natürlich wäre es das Beste, überhaupt die Entstehung einer Sucht zu vermeiden. Doch selbst, wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person schon in eine Abhängigkeitserkrankung geraten ist: Es gibt Wege aus der Sucht.
Dazu ist es unbedingt notwendig, sich auch mit den verschiedenen Facetten einer Suchterkrankung vertraut zu machen – damit der Ausstieg aus der Abhängigkeit gelingen kann!
Die meisten Menschen in Deutschland leben im Überfluss, Genussmittel sind allgegenwärtig: Bei vielen ist das tägliche Feierabendbier, die Zigarette zum Wachwerden oder auch der Schampus zum feierlichen Anstoßen aus dem Alltag nicht wegzudenken. Auch andere mögliche Suchtobjekte sind längst Teil unseres täglichen Lebens: Wenn wir eine Information benötigen, suchen wir im Internet, wir stehen Schlange, wenn ein neues Smartphone auf den Markt kommt – und die Zahl der Internetsüchtigen steigt und steigt. Kaum eine Wunschliste eines Jugendlichen kommt noch ohne ein neues Game aus – und wenn wir uns der Midlife-Crisis nähern, entdecken wir plötzlich Sport und Intervallfasten.
In der Regel bemerken wir gar nicht, wenn wir von einem „normalen“ Konsum in eine physische und/oder psychische Abhängigkeit von einer Substanz oder einer Verhaltensweise geraten. Doch wenn wir uns einmal in der Abwärtsspirale der Sucht befinden, ist es umso schwerer, zu einem moderaten und gesunden Verbrauch zurückzukehren. Oft erscheint dann der komplette Verzicht die einzige Lösung. Doch ist das in vielen Fällen nicht praktikabel.
Wie kann jemand im Falle der Esssucht das Essen ganz aus seinem Leben streichen? Oder können und wollen Sie sich vorstellen, für immer und absolut auf jeden Tropfen Alkohol, auf Sport, auf soziale Medien und Internet zu verzichten?
Eben weil wir von so vielen Angeboten, die alle potenziell Sucht erzeugen können, umgeben sind, ist es umso wichtiger, sich frühzeitig über die Mechanismen von Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht klar zu werden. So gewinnen wir die Freiheit der Wahl, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zurück.
Wie viele Menschen sind süchtig?
Schätzungen zufolge ist jeder 10. Deutsche suchtkrank. Die weitaus häufigeren Fälle von risikoreichem Konsumverhalten sind hierbei noch nicht mitgezählt. Auf jeden Suchterkrankten kommen meistens ein Co-Abhängiger und drei bis vier „mit dem Suchtverhalten problematisch Verstrickte“, also nähere Familienangehörige und engere Freunde. Sucht ist damit allgegenwärtig, Sucht betrifft uns alle.
Im Jahr 2016 wurden in Deutschland in 863 ambulanten und 211 stationären Einrichtungen 342 009 ambulante Betreuungen und 47 776 stationäre Behandlungen durchgeführt. Quelle: Suchthilfestatistik.de
Diese Zahl ist jedoch nicht unbedingt aussagekräftig: Denn zum einen ist mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen, zum anderen sind manche Suchtpatienten auch regelmäßige Gäste in den Kliniken und Therapieeinrichtungen. Es kommt also durchaus häufig vor, dass ein Suchtkranker mehrmals im Jahr in den Ambulanzen und/ oder Kliniken vorstellig wird. Mitunter ist es auch nicht einfach, Missbrauch (Abusus) von Sucht zu unterscheiden. Auch bereits Missbrauch von Substanzen und risikoreiches Konsumverhalten sind als Vorstufen zur Sucht zu betrachten.
Zahlen und Fakten zur Sucht in Deutschland
Nach repräsentativen Studien (insbesondere Epidemiologischem Suchtsurvey 2015)
- rauchen 14,7 Millionen Menschen
- sind 1,8 Millionen Menschen alkoholabhängig
- sind 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig
- weisen ca. 600 000 Menschen einen problematischen Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen auf
- zeigen ca. 500 000 Menschen ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten
- sind ca. 560 000 Menschen onlineabhängig
Quelle: Bundesgesundheitsministerium.de
Welche Typen von Sucht gibt es?
Alles kann, nichts muss süchtig machen. Auf unsere natürliche Lernbegabung ist es zurückzuführen, dass alles, was in dieser Welt existiert, auch süchtig machen kann – und es doch in den meisten Fällen nicht tut. Um süchtig zu werden, braucht es nicht unbedingt eine Substanz, ein Suchtmittel: Denn unser Gehirn ist in der Lage, Nichtstoffliches (Immaterielles) mit physischem und psychischem Wohlbefinden zu verknüpfen.
Im Extremfall kann sogar der Verzicht auf Nahrung wie bei der Magersucht (Anorexie) im Gehirn für die Aktivierung des „Belohnungszentrums“ sorgen: Über die Reaktion des Nucleus accumbens und die konsequente Freisetzung von Dopamin und in der Folge endogener Opioide (Endorphine) fühlt sich der Betroffene gut, fast „high“ – teilweise sogar dann noch, wenn der Organismus bereits am Verhungern ist.
Der Nucleus accumbens ist Teil des „mesolimbischen Systems“, das maßgeblich an der Entstehung der Emotion „Freude“ beteiligt ist. Freude als eine der fünf Primäremotionen wirkt motivationsbeeinflussend und sichert(e) somit das Überleben der Spezies. Die Freude, die wir bei bestimmten Verhaltensweisen empfinden, die zum Erfolg führen, motiviert uns, diese Verhaltensweisen häufiger auszuführen. Im Falle der Sucht ist dieser Prozess entartet – aus dem Überlebensvorteil durch die motivierende Freude ist eine Lebensbedrohung geworden. Das Gefühl, das ursprünglich ein spezifisches Verhalten nur motivieren wollte, determiniert nun unser Verhalten. Im Entzug muss das Gehirn auf die künstliche Aktivierung des Lust- und Belohnungszentrums verzichten – so drohen im Entzug oft Depressionen, Schmerzen, Anspannung, Schlafstörungen, Heißhungerattacken, Unlustgefühle und schließlich sogar Suchtverschiebung. In einer Psychotherapie werden valide Ersatzhandlungen gesucht – denn der Sucht-Teufelskreis muss unterbrochen werden.
Niemand wird freiwillig süchtig
Menschen schliddern in eine Abhängigkeit hinein – manchmal ohne weiteren (tiefen-) psychologischen Hintergrund, ohne dass wir etwas „suchen“ und den Suchtstoff dabei entdecken (das Wort „Sucht“ ist etymologisch jedoch nicht auf „suchen“, sondern auf „siechen“ zurückzuführen), aus reinem Zufall gewöhnen wir uns süchtiges Verhalten an. Die erste Probierzigarette, die ersten Biere, die ersten Diäten können (aber müssen nicht) der Abhängigkeit die Tür öffnen.
So ist auch der neueste Trend des Schlankeitswunsches, das intermittierende Fasten (dem sich vor allem Menschen in den mittleren Lebensjahren verschrieben haben, die sich in der Midlife-Crisis befinden), mit Risiken behaftet. Schnell, manchmal zu schnell, lernt das Gehirn, dass eine zuverlässige Methode, die körpereigenen Schmerzmittel und Glückshormone anzukurbeln, der Verzicht auf Nahrung ist. So drohen Anorexie oder zumindest ein problematisches Essverhalten nicht nur bei den Fastenden selbst, sondern vor allem auch durch die Vorbildfunktion bei den Kindern.
Wie ist Sucht definiert?
In der Medizin und Psychologie unterscheiden wir zwischen Substanzabhängigkeiten (stoffgebundenen Süchten) und immateriellen Süchten (stoffungebundenen Süchten): Während die ersten den schädigenden und missbrauchenden Konsum eines Stoffes voraussetzen, meint das Zweite ein übersteigertes Verhalten, also den Drang, etwas zu tun (z. B. Glücksspiel- oder Sexsucht).
Nach der Definition in der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) wird die Diagnose Abhängigkeit dann gestellt, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien während der vergangenen zwölf Monate vorhanden waren:
- Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, zu konsumieren
- Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums
- Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums
- Nachweis einer Toleranz im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen
- Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Konsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen
- Anhaltender Konsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen
Sehr anschaulich beschreibt K. Wanke Sucht:
„Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums.“ (Quelle: K. Wanke: Süchtiges Verhalten. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, 1985, S. 20)
Problem Internetsucht
Insbesondere die steigende Zahl von Internetabhängigen sorgt für Beunruhigung: Bereits 2011 veranschlagte die PINTA-Studie (Prävalenz der Internetabhängigkeit, vom Bundesministerium für Gesundheit publiziert) bezüglich des problematischen Konsums und der Abhängigkeit vom Internet und von sozialen Medien in Deutschland bei 14- bis 64-Jährigen: 1,5 % (Frauen 1,3 %, Männer 1,7 %) für das Vorliegen einer Internetabhängigkeit.
Bei getrennter Betrachtung der jüngeren Altersgruppen ergeben sich höhere Häufigkeiten. So findet man bei den 14- bis 24-Jährigen 3,8 % (Frauen 4,5 %, Männer 3,0 %).
Der Anstieg findet sich auch noch einmal bei Analyse der 14- bis 16-Jährigen mit 6,3 % (8,6 % Mädchen und 4,1 % Jungen).
Quelle: Bundesgesundheitsministerium.de
Durch die zunehmende Verbreitung von internetfähigen Smartphones in den letzten Jahren dürfte diese Zahl sich bereits um ein Vielfaches erhöht haben.
Entwicklung von Sucht – Alkoholismus, verschiedene Begrifflichkeiten
Für jeden Süchtigen gab es ein „erstes Mal“: Aus Unbedarftheit, aus Gruppenzwang, aus Neugierde heraus wird „mal geschaut“, wie etwas wirkt, wie sich etwas anfühlt. Dieser experimentelle Gebrauch sagt jedoch noch nichts über die damit verbundene gesundheitliche Gefährdung oder Schädigung aus.
„Süchtiger Gebrauch“ = Abhängigkeit/Sucht
Allen Definitionen von „Abhängigkeit“ ist gemeinsam, dass sich die Sucht mittels eines dynamischen Prozesses einstellt. Die Übergänge zwischen experimentierendem Konsum, gelegentlichem Konsum, gesundheitsgefährdendem Konsum bis zur Abhängigkeit sind jedoch fließend. Es scheint spezielle „sensible Phasen“ im Laufe der Suchtentwicklung zu geben, in denen die Gefahr, eine Abhängigkeit zu entwickeln, vor allem bei plötzlichem Wegfall des Suchtmittels (z. B. durch Verbot des Konsums) erhöht ist (als „Paradoxie der freien Wahl“ auch aus Tierexperimenten bekannt).
Weshalb ist Sucht gefährlich?
Beispiel Alkoholismus
Bei stoffgebundenen Abhängigkeiten ist es klar: Je nach Art der Abhängigkeit wird der Körper früher oder später durch die Einnahme der Suchtmittel geschädigt, oft irreversibel. So kann chronischer Alkoholkonsum zum Tod z. B. durch Leberversagen führen. Gerade weil Alkohol in Deutschland ein akzeptiertes Genussmittel ist, ist das Risiko, alkoholabhängig bzw. Alkoholiker zu werden, höher, als beispielsweise heroinabhängig zu werden.
Genuss oder Abhängigkeit?
Bei regelmäßigem (und/oder erhöhtem) Alkoholkonsum kann ein riskanter Konsum, ein schädlicher Gebrauch oder eine Abhängigkeit vorliegen. Zwischen diesen Konsummustern gibt es fließende Übergänge.
Riskanter Alkoholkonsum
Ein riskanter Alkoholkonsum liegt vor, wenn mehr als 12 g Alkohol von Frauen und 24 g von Männern pro Tag konsumiert werden. In Deutschland weisen 15,6 % der Männer und 12,8 % der Frauen zwischen 18 und 64 Jahren einen riskanten Alkoholkonsum auf.
Schädlicher Konsum, Missbrauch
Ein schädlicher Gebrauch liegt vor, wenn der Alkoholkonsum zu körperlichen, psychischen und sozialen Konsequenzen geführt hat. Diese Schädigungen müssen kontinuierlich über einen Zeitraum von mind. einem Monat oder mehrfach im Verlaufe von zwölf Monaten aufgetreten sein. Eine Abhängigkeit ist hierbei auszuschließen. Circa 1,61 bis 1,77 Mio. der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland weisen einen Alkoholmissbrauch bis hin zur Abhängigkeit auf, was die Diagnosestellung nach ICD-10 erlaubt.
Wie können Sie eine eigene Suchtgefährdung erkennen?
Sucht entsteht nicht über Nacht: Es ist insbesondere die Wiederholung des problematischen Verhaltens, die Gewöhnung an die Präsenz des Suchtstoffs im Alltag, die eine Abhängigkeit entstehen lässt. Sucht schleicht sich also ein. Manchmal dauert es Jahre, bis aus einem unproblematischen Konsum eine Suchterkrankung wird.
Beobachten Sie Ihr Verhalten: Haben Sie den regelmäßigen Konsum eines Suchtmittels oder ein Suchtverhalten in Ihren Alltag fest integriert?
Erfassung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit (CAGE-Fragebogen)
Der CAGE-Fragebogen ist ein kurzes, international anerkanntes und in der Praxis bewährtes Screening-Instrument zur Erfassung von Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit. Er ist im Rahmen der Anamnese zur Aufdeckung eines pathologischen Alkoholkonsums geeignet. Werden mehrere der vier Fragen vom Patienten mit „Ja“ beantwortet, ist eine Alkoholsucht als wahrscheinlich anzunehmen. Die vier Schlüsselfragen sind:
Cut Down Drinking. Haben Sie jemals daran gedacht, weniger zu trinken?
O ja O nein
Annoyance. Haben Sie jemals bei anderen Menschen Anstoß erregt, weil Sie nach deren Meinung zu viel trinken?
O ja O nein
Guilty. Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt?
O ja O nein
Eye Opener. Haben Sie jemals morgens als Erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder einen Kater loszuwerden?
O ja O nein
Eine weitere Hilfestellung, um den eigenen Konsum einzuschätzen, ist die Selbstbeobachtung:
- Wenn genug nicht mehr genug ist! Betrachten Sie Ihren langfristigen Konsum: Hat früher weniger Alkohol oder Ecstasy, eine geringere Menge an Zigaretten, weniger Zeit vor dem Computer oder am Spielautomat gereicht, um bei Ihnen für den „Kick“ zu sorgen?
- Freunde fragen kritisch nach! Haben Partner oder Partnerinnen, Verwandte oder Bekannte Sie auf Ihren Konsum schon einmal besorgt angesprochen?
- Sie verlieren die Kontrolle! Kam es Ihnen schon einmal so vor, als ob Sie nicht mehr selbst darüber entscheiden konnten, ob und in welcher Menge Sie etwas konsumieren, sondern dass Sie es einfach tun mussten?
- Schuldgefühle kommen auf! Verstecken Sie manchmal Ihren Konsum vor anderen, weil er Ihnen peinlich ist?
- Sie trinken am falschen Ort! Trinken Sie nicht nur mit Freunden in der Kneipe, sondern oft alleine zu Hause und manchmal auch im Büro?
- Ihnen fehlt etwas ohne Stoff! Haben Sie sich schon mal körperlich unwohl, nervös oder depressiv gefühlt, weil Sie länger ohne Alkohol, Drogen oder Glücksspiel auskommen mussten?
- Verpflichtungen werden egal! Waren Ihnen schon einmal Aufgaben in Beruf oder Schule oder Verabredungen mit Partnern oder Freunden egal, weil Sie rascher an dieses Glücksgefühl kommen wollten?
- Der ganze Körper spürt die Folgen! Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie träger im Denken werden, Sie Ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen konnten und Sie sich in manchen Situationen nicht mehr angemessen verhalten?
- Sie ignorieren eigene Zweifel! Haben Sie schon einmal aus Spaß einen Selbsttest über die Frage gemacht, ob Sie süchtig sind, und dabei ignoriert, dass er bedenklich ausfiel?
Entstehung von Suchterkrankungen
Psychologische Erklärungsansätze suchen die Ursache des Drogengebrauchs und der Drogenabhängigkeit im Individuum. Hier sind vor allem der psychoanalytische Ansatz, das lerntheoretische Erklärungsmodell und systemische Theorien zu nennen.
Nach dem psychoanalytischen Ansatz wird die Ursache der Sucht in einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung gesehen.
In dem behavioristischen/lerntheoretischen Modell wird die Persönlichkeitsentwicklung gleichgesetzt mit Lernerfahrungen. Sucht wird als erlerntes Verhalten angesehen (klassische und operante Konditionierung, soziales Lernen wie z. B. Modelllernen, Identifikation, Imitation, Rollenübernahme, Rollenverhalten).
Systemische Theorien stellen die Dynamik und die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern als Teile eines Systems in den Mittelpunkt. Sie beschäftigen sich nicht primär mit der Entstehungsgeschichte von Sucht, sondern hinterfragen die Mechanismen des Suchtverhaltens: Welche Faktoren halten die Pathologie zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht, welche verändern sie?
Der biologische Theorieansatz will stoffgebundene Abhängigkeiten auf biologische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten zurückführen. Psychoaktive Substanzen greifen in verschiedene Stoffwechselprozesse des Gehirns ein und bewirken neurobiologische Veränderungen. Eine psychoaktive Substanz oder bestimmte Verhaltensweisen (z. B. Glücksspiel) verleiten dann zum Missbrauch, wenn sie hirneigene Mechanismen aktivieren und ein subjektiv empfundenes Belohnungsgefühl (im Belohnungssystem des Zentralnervensystems/mesolimbischen System) erzeugen. Die neurobiologischen Theorien führen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht vor allem auf metabolische Prozesse im Gehirn zurück, wobei sie auch von einem VulnerabilitätsStress-Modell ausgehen: Bestimmte Personen sind anfälliger für Suchtverhalten.
Unter natürlichen Bedingungen wird das Belohnungssystem durch lebensnotwendige Prozesse wie Essen, Trinken, Sexualverhalten, Fürsorgeverhalten usw. aktiviert.
Soziologische Theorien wollen Ursachen des Drogengebrauchs und der Drogenabhängigkeit aufgrund gesellschaftlicher und lebensweltlicher Einflüsse erklären. Aus soziologischer Sicht können beispielhaft folgende Risikofaktoren angeführt werden:
- Allgemeine Schwierigkeiten des Einzelnen, sich in einer Risikogesellschaft zurechtzufinden, in der gesellschaftliche Risiken (wie altersarm, pflegebedürftig oder arbeitslos zu werden) zunehmend auf die Einzelperson zurückfallen
- Zukunftsängste und mangelnde Zukunftsperspektive im beruflichen wie privaten Alltag
- Leitbilder und Werbung für Suchtmittel, Schönheitsideale verführen zu Suchtmittelkonsum
- Erlebnis- und Konsumorientierung
- Stress und Belastungen in Ausbildung, Arbeit, Freizeit
- Peergroup-Effekt: Der erste Suchtmittelkonsum vollzieht sich in der Regel nicht isoliert, sondern innerhalb der Bezugsgruppe
- Zunehmende Vereinsamung und ungewolltes Singledasein
- Familiäre Einflüsse: fehlerhafte Erziehungsstile (rigide Haltung, Laisser-faire, Inkonsistenz), Vorbildverhalten, Beziehungskrisen
Modell der Trias der Entstehungsursachen von Abhängigkeit
Die Entstehung von Sucht kann jedoch nicht mit einem singulären Erklärungsmodell beschrieben werden. Da jeder der erwähnten Erklärungsansätze für sich allein genommen das Phänomen eben nicht ausreichend erklären kann, entstehen aus ihrer Kombination multifaktorielle Konzepte. Die Trias psychoaktive Substanz (Droge), Individuum (Set) und Gesellschaft bzw. soziales Umfeld (Setting) wird in diesem Zusammenhang beschrieben.
Suchtverhalten als Selbstheilungsversuch
Die 2008 in dem Werk „Vom Neuron zum Qubit: auf den Spuren des Bewusstseins“ beschriebene Theorie von Friedrich besagt, dass Suchtverhalten einen Versuch der Selbstheilung des Organismus darstellen kann: Der Körper bzw. eine übergeordnete Kategorie des Bewusstseins blickt auf sich selbst bzw. ihren eigenen Zustand und stellt ein Defizit im Neurotransmittergleichgewicht fest. Über das Suchtverhalten wird eine Dopamin-Ausschüttung provoziert und damit über die Aktivierung der Achse Nucleus accumbens – Frontalkortex konsequenterweise auch eine Ausschüttung von Dopamin, Adrenalin und endogener Opioide.
So versucht der Organismus, die festgestellte Dysbalance zu beheben – wobei es auf individuelle Faktoren zurückzuführen ist, welche Strategie die Person wählt, um für die Aktivierung der entsprechenden Mechanismen zu sorgen. Verschiedene Verhaltensweisen, die dopaminstimulierend wirken, werden ausprobiert. Das kann von Fasten und exzessivem Sport über Sensation-Seeking-Verhalten (das vor allem „Adrenalinjunkies“ zeigen: Dazu gehören z. B. Bungee-Jumping, Free-Solo-Klettern, Sky Diving etc.) bis hin zum Gebrauch von Medikamenten und Drogen, Rauchen oder Spielsucht gehen. Auch Essen bzw. der Verzicht auf Nahrung kann diese Kettenreaktion auslösen.
Das entstandene Suchtverhalten ist also primär der Versuch, all die Symptome eines entsprechenden Mangels zu vermeiden – welcher verschiedene Krankheiten bedingen kann, eine Depression, aber auch Parkinson etc. Als Selbstheilungsversuch des Organismus, der jedoch seinerseits zum Problem wurde, gilt, das Suchtverhalten hier als fehlgeschlagene Lösungsstrategie zu betrachten.
Teil 2 des Artikels im nächsten Magazin.
Dr. phil. Marion Friedrich
Praxis für heilpraktische Psychotherapie in Augsburg, Schwerpunkte Hypno- und Verhaltenstherapie, humanistische Methodik, Dozentin an der Universität Augsburg und an den Paracelsus Schulen, Autorin
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