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Heilpraktiker und ihr "Nazivergangenheit"

Mitte Februar 2024 hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, die Berufsgruppe der Heilpraktiker in die „rechte Ecke“ gerückt. Gegenüber dem Schwäbischen Tagblatt äußerte er in einem Interview, er halte Heilpraktiker für „anschlussfähig“ an antisemitische Narrative, u. a., weil das Heilpraktikergesetz seit 1939 existiert.

Schon einmal, 2020, hatte Dr. Klein ähnlich missverständliche Äußerungen gemacht, dann aber auf Intervention verschiedener Heilpraktikerverbände sein Bedauern darüber ausgedrückt, wenn aufgrund seiner Ausführungen im Hinblick auf die damaligen Corona-Demonstrationen der Eindruck entstanden sein sollte, dass „allgemein die Heilpraktiker oder alle Menschen aus der Friedensbewegung in unserem Land als Mitverantwortliche für die antisemitischen Grenzüberschreitungen im Zuge der Proteste gegen die staatlichen Corona- Maßnahmen“ gesehen werden.

Damals hatte sich der VFP – gemeinsam mit anderen Heilpraktikerverbänden – von jeglicher Form des Antisemitismus öffentlich distanziert:
https://www.gesamtkonferenzheilpraktiker.de/heilpraktiker-sindbunt-nicht-braun/

Da dieses Narrativ aber nun wieder auftaucht, gehen wir der Sache einmal auf den Grund

Immer wieder wird Heilpraktikern eine gewisse Nähe zum Gedankengut des Nationalsozialismus unterstellt. Immerhin, so wird argumentiert, stamme das Heilpraktikergesetz, also die rechtliche Grundlage für die Arbeit der Heilpraktiker (immer m/w/d), aus dem Dritten Reich. Dort lägen auch die Wurzeln des Berufsstandes. Das müsse Anlass sein, den Berufsstand und seine Rechtsgrundlagen mindestens gründlich zu überprüfen.

Aber stimmt das? Haben die Heilpraktiker eine Nazivergangenheit?
Fakt ist: Das „Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung“ (Heilpraktikergesetz) stammt von 1939, also aus der Zeit des Dritten Reichs. Zuvor galten die Heilpraktiker gemäß „Reichsgewerbeordnung“ als Heilgewerbe; ihre Tätigkeit war nach den Grundsätzen der sog. Kurierfreiheit geschützt.


Das Gesetz vom Februar 1939 zielte aber keineswegs darauf ab, den Berufsstand des Heilpraktikers zu schützen oder als dauerhaften Bestandteil des Gesundheitswesens zu etablieren.

Im Gegenteil: In der ursprünglichen Fassung (der „Nazi“-Version sozusagen, wie sie unverändert bis 1989 in der DDR galt), veröffentlicht im Reichsgesetzblatt vom 20. Februar 1939, hieß es nämlich unter anderem, „Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher berufsmäßig nicht ausgeübt hat, kann eine Erlaubnis ... in Zukunft nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erhalten“. Und selbst, wer bislang schon als Heilpraktiker arbeitete, hatte nur bis zum 1. April 1939 Zeit, die entsprechende Erlaubnis für die weitere Ausübung seines Berufs zu beantragen. Weiter heißt es: „Es ist verboten, Ausbildungsstätten für Personen, die sich der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes widmen wollen, einzurichten oder zu unterhalten.“

Mit anderen Worten: Wer bei Inkrafttreten des Gesetzes nicht ohnehin schon als Heilpraktiker arbeitete hatte, der hatte praktisch keine Chance mehr, das in Zukunft irgendwann einmal tun zu können. Und: Damit und mit dem Verbot, Nachwuchs auszubilden, war der Beruf des Heilpraktikers zum Aussterben verurteilt.

Dass dieser Plan der Nationalsozialisten aufgegangen wäre, zeigt ein Blick in die DDR: Während die fraglichen Punkte des Nazigesetzes in der BRD als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar Anfang der 1950er-Jahre abgeändert wurden, blieb es in der DDR bis 1989 in seiner ursprünglichen Fassung in Kraft.

Also: keine Ausbildung neuer Heilpraktiker – kein beruflicher Nachwuchs. In der Folge soll es in den „neuen Bundesländern“ 1990, also 45 Jahre nach Ende der Naziherrschaft, noch ganze 11 (elf) Heilpraktiker gegeben haben.

Der Nationalsozialismus hatte sich also das Ziel gesetzt, den Beruf des Heilpraktikers mittelfristig „aussterben“ zu lassen. Das war selbst für die Nazis ungewöhnlich. Woher rührte die Abneigung gegen einen ganzen Berufsstand?

Hier kann man nur mutmaßen. Interessant ist aber ein Blick auf den damaligen Reichsärzteführer Gerhard Wagner. Wagner war ein Nazi der allerersten Stunde. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er unter anderem zum „Freikorps Epp“, das die Münchner Räterepublik zusammenschloss. Bereits 1929 trat er der NSDAP bei. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der studierte Mediziner Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung, Leiter der Reichsärztekammer und Reichsärzteführer, war außerdem unter anderem Mitglied der Hochschulkommission und des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungsund Rassenpolitik.

1937 verkündete Gerhard Wagner, dass Kurierfreiheit und Nationalsozialismus unvereinbar seien. Zwar hatten die Nazis direkt nach der Machtübernahme auch die Heilpraktiker gleichgeschaltet (Zwangsmitgliedschaft im „Heilpraktikerbund Deutschlands“) und verfügt, den Heilpraktikerbund „von allen unbrauchbaren und unzuverlässigen Elementen ... deren Ausmerzung im Interesse der Volksgesundheit liegt, zu bereinigen“. Doch das genügte dem Reichsärzteführer offensichtlich nicht. Mit seiner Weisheit über die Unvereinbarkeit von Kurierfreiheit und Nationalsozialismus holte der Ober-Nazi nämlich eine ganz dicke Keule aus dem Schrank: Die – auch nach der Gleichschaltung offenbar immer noch bedenkliche – Individualität der Heilpraktiker und die von ihnen gelebte Methodenfreiheit widersprachen direkt dem in allen Bereichen des Lebens geltenden „Führerprinzip“. In der Folge begann die Ausarbeitung des Heilpraktikergesetzes von 1939.


Offen bleibt, inwieweit es bei Wagners Abneigung gegen die Heilpraktiker einen Zusammenhang mit seinem Hintergrund als studierter Mediziner gab. Denn die lieb gewonnene Tradition bestimmter Kreise, darunter auch ein mehr oder weniger großer Teil der Ärzteschaft, immer wieder und immer gleich gegen Heilpraktiker Front zu machen, ist nicht neu: Schon nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871, als die nichtärztliche Heilkunde durch die neuen Gewerbeordnungen der Länder gedeckt war, gründeten die Ärztevereinigungen eine „Kurpfuscher-Kommission“, aus der 1903 die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums“ wurde. Bis in die Nazizeit betrieb sie Lobbyarbeit gegen „Heiler“, die Naturheilkunde, die Homöopathie etc.

Genutzt hat das zunächst wenig – auch nach der Machtübernahme der Nazis gab es Heilpraktiker. Doch offenbar blieben sie Teilen der Ärzteschaft selbst unter den Bedingungen der Gleichschaltung ein Dorn im Auge. So scheint es nicht ausgeschlossen, dass der Reichsärzteführer im Interesse von zumindest Teilen seines Berufsstandes seine Macht nutzte, um die störenden Individualisten endlich „wegzumachen“. Der Beruf des Heilpraktikers gehört zu den Berufen, die unter der Repressionspolitik des Nationalsozialismus zu leiden hatten. In vielen Verbänden ist die Erinnerung an diese unsägliche Zeit und den repressiven Umgang der Nazis mit den Heilpraktikern bis heute unvergessen.


So erklärt sich wenigstens zum Teil auch die quasi genetisch angelegte Abneigung der Heilpraktiker gegen jede Art von Totalitarismus, rechter Gewalt und faschistischem Gedankengut. Gerade die individuelle und Methodenvielfalt der Heilpraktiker steht in krassem Gegensatz zu rechten Ideen mit ihren Vereinheitlichungstendenzen. Dass die Ausführungen ausgerechnet des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung bei vielen Mitgliedern Irritationen, wenn nicht Bestürzung auslösen, scheint da sehr verständlich.

Jens Heckmann Redakteur, Fachmann für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.