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Integration

Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund und in der Aufnahmegesellschaft

Gewisse Verhaltensauffälligkeiten, die als Krankheitsdiagnosen ausgewiesen werden, können aufgrund einer anderen Herkunft entstanden sein und stellen damit gar keine psychologischen Auffälligkeiten dar. So können Normen, Werte, Traditionen dafür sorgen, dass Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund andere Einstellungen oder andere Verhaltensweisen zeigen, als es die westliche Aufnahmegesellschaft erwartet oder gewohnt ist. Aus der durchlaufenen Sozialisation im jeweiligen Heimatland und der jeweiligen Erziehung im Elternhaus prägen sich Denkmuster und Verhaltensweisen in Bezug auf unterschiedliche Situationen, die sich dann auch in verschiedenen Rollenbildern widerspiegeln.

So haben wir andere Normen, Werte, Traditionen in Deutschland als in Afghanistan oder der Ukraine. Zudem durchlaufen wir eine ganz andere Sozialisation mit Kindergarten, Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Weiterbildung und Freizeitverhalten als es in anderen Ländern, wie auch in den USA oder Kanada der Fall ist.5)

Die Therapieangebote in Deutschland sind nach der Aufnahmegesellschaft ausgerichtet und passen somit nicht komplett zu den Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund. Denn die Krankheitsdiagnosen sind nach westlichen Standards festgelegt, welche westliche Rollenbilder, Einstellungen, Werte, Normen, Traditionen und Ziele verfolgen. Diese weichen von anderen Ländern erheblich ab. Das wird aber nicht automatisch bei der Krankheitsdiagnose oder dem Therapieangebot mitberücksichtigt. So geht es z. B. um gesellschaftliche Werte, Lebenseinstellungen, Erziehungsfragen, Sozialisationsfragen, Beziehungsfragen zu Mann und Frau, Tagesstruktur, Partizipationseinstellungen, Identitätsentwicklungsfragen, Gesundheitsfragen, Bewegungsund Essgewohnheiten.5)

„Am Anfang einer Psychotherapie sollte eine sorgfältige, kultursensible Anamnese

und Diagnostik stehen, die kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Hintergründe der Patienten (immer m/w/d) berücksichtigt. Hier sollte auch eingeschätzt werden, welche Rolle der Migrations- oder Fluchthintergrund bei der psychischen Erkrankung spielt.“1)

Bestehen zwischen Klienten und Therapeuten unterschiedliche Erwartungen an die Psychotherapie, kann dies aufgrund von verschiedenen Werten und Rollenbildern zu Missverständnissen führen. Dies erschwert den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, könnte zu Konflikten führen oder den Abbruch der Therapie bedeuten.1)

Heinz: „Eine Doktorandin mit muslimischem Hintergrund erzählte mir, dass ihr Psychotherapeut versuchte, ihr den Islam auszureden. Da war die Therapie natürlich schnell vorbei. Die Menschen wollen zu einem Psychotherapeuten gehen, der sie und ihre Lebensrealität versteht.“6)

Um ein Vertrauensverhältnis herzustellen, ist es wichtig, dass Therapeuten eine „offene, interessierte und wertschätzende Hal-

tung gegenüber ihren Klienten mit Fluchtoder Migrationshintergrund aufweisen“.1)

Dazu sollten sie einfühlsam auf die Klienten eingehen und in der Lage sein, die Therapie flexibel anzupassen. Stammen die Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund aus diktatorischen Ländern, besteht des Öfteren ein gewisses Misstrauen gegenüber Behörden. Dadurch ist es schwer, ein Vertrauensverhältnis zu Therapeuten aufzubauen.1)5)

Klienten mit Flucht- und Migrationshintergrund sehen Therapeuten als Autoritätspersonen, die ihnen genau aufzeigen, was die Ursache für ihre Erkrankung oder Belastung ist, wie diese besser werden könnte und was sie in ihrem Alltag verändern können. Einige von ihnen sprechen nicht selbstständig über ihre Belastungen oder Probleme. Sie erwarten, dass die Therapeuten sie befragen und erst dann beantworten sie diese Fragen. Dazu kommt noch, dass sie über ihre Belastungen und Probleme anders sprechen, was Therapeuten falsch verstehen und deuten. „So werden in

der Türkei oft Redewendungen, die sich auf Organe beziehen, aber einen psychischen Zustand ausdrücken, verwendet, z. B.: ‚Meine Gallenblase ist geplatzt‘, um großes Erschrecken und Angst auszudrücken“.1)

Auch bei interkulturellen und transkulturellen Kenntnissen sollte beachtet werden, „... dass es ‚die Türken‘ nicht gibt, sondern Menschen mit ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen“.6)

Klienten sind bei diesen Themen auch verschlossen, weil sie es gewohnt sind, nur mit der Familie über solche Themen zu sprechen. Bei afrikanischen und asiatischen Hintergründen ist es sogar unhöflich, andere Personen mit den eigenen Problemen zu belasten. „In traditionell und kollektivistisch geprägten Kulturen werden Dinge, vor allem problematische Themen, häufig nicht direkt angesprochen, sondern eher indirekt, etwa durch Anspielungen, Mimik oder Körperhaltung ausgedrückt“.1)

So kann es schnell zwischen Klienten und Therapeuten zu Missverständnissen kommen, was die Diagnose und Behandlung schwierig macht. Bei kollektivistisch geprägten Hintergründen gibt es sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft eine Hierarchie, die sich nach dem Alter oder Geschlecht orientiert, hierbei stehen Gehorsam und Respekt im Vordergrund. Die Abhängigkeit zur Gruppe bleibt in kollektivistischen Kulturen dauerhaft bestehen. Diese Klienten stellen ihre eigenen individualistischen Ansprüche für die kollektiven Ansichten der Familie oder Gesellschaft zurück.

Für die Therapeuten wird es kaum möglich sein, eine Änderung des Verhaltens zu erzeugen, wenn sie sich nur auf reine individualistische Gesichtspunkte stützen. Sehr wichtig ist vielmehr, die Familie und die gesellschaftlichen Hierarchien mitzuberücksichtigen. Dabei ist ein kultursensibles Fingerspitzengefühl gefragt, denn die individualistischen Kulturen sind geprägt von der Unabhängigkeit, hierbei spielen die Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Meinung und die Selbstverwirklichung eine entscheidende Rolle. In individualistischen Kulturen entwickeln sich Personen von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit.1)5)

Unter der ersten Generation halten Eltern an den traditionellen Werten ihres Herkunftslandes fest, während ihre Kinder sich schneller den individualistischen Kulturvorstellungen, die nach persönlicher Autonomie ausgerichtet sind, anpassen können.5)

Somit sollten therapeutische Maßnahmen an die Hintergründe der Klienten angepasst werden, diese sollten über alle Schritte aufgeklärt werden und es sollte ihnen genau erläutert werden, warum diese Schritte jetzt angestrebt oder umgesetzt werden. Dabei sollte nicht nur der kulturelle, sondern auch der religiöse Hintergrund bedacht und miteinbezogen werden, dies zeigt sich gerade bei Themen, wie Essgewohnheiten, Kleidung, sozialen Verhaltensregeln und der Respekt vor älteren Familienangehörigen.1)

Aus all diesen Gründen sind Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund sehr darauf angewiesen, dass sie gezielt passend zu ihren Themen behandelt werden, wenn sie psychisch erkranken oder Belastungen erleben und diesbezüglich Hilfe benötigen. „So wird professionelle interkulturelle Kompetenz von Ärzten, Therapeuten und Pflegenden immer wichtiger.“4)

Bei der Therapie von Personen mit Migrations- oder Fluchthintergrund ist zu beachten, dass nicht nur die Herkunftskultur miteinbezogen wird, sondern nachdem dies geschehen ist, auch die Person individuell zu ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit und Sozialisation befragt wird, denn es kann sein, dass diese Klienten generell die Separation als Lebenseinstellung für sich gewählt haben und schon in ihrem Herkunftsland danach gelebt haben und nicht erst in Deutschland.5)

Anamnese, Diagnose und Therapie
Die Erstgespräche in Form von Anamnese, Diagnostik und therapeutischem Vorgehen können zeitlich aufwendiger ausfallen als bei Klienten aus der Aufnahmegesellschaft. Dies kann durch sprachliche Barrieren oder durch kulturelle Unklarheiten der Fall sein. „Zu Beginn einer Psychotherapie sollte eine sorgfältige, kultursensible Anamnese und Diagnostik durchgeführt werden, bei der der kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Hintergrund der Patienten berücksichtigt wird. Hier sollte auch eingeschätzt werden, welche Rolle der Migrations- oder Fluchthintergrund bei der psychischen Erkrankung spielt.“1)

Wichtig hierbei ist, den Klienten alles transparent darzustellen und zu erläutern, damit sie jeden Schritt nachvollziehen und sich darauf einlassen können. Klienten und Therapeuten sollten dieselbe Sprache sprechen, damit es nicht zu Verständigungsproblemen und somit zu Missverständnissen kommt. Personen, die die deutsche Sprache nicht so gut sprechen, bejahen 

manchmal Fragen, um die Unkenntnis der Sprache zu vertuschen, nur tun sie sich damit keinen Gefallen, denn dadurch notieren die Therapeuten die Zustimmung zu einer Frage, obwohl die Klienten gar nicht verstanden haben, was sie gefragt wurden, wodurch es zu gravierenden Fehldiagnosen kommen kann.

Hier sollten Therapeuten und Ärzte lieber noch mal nachfragen und zwar so, dass Patienten nicht mit „Ja“ antworten können, sondern selbst den Inhalt passend zu der Frage als Satz beantworten müssen. Deshalb sollte bei Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund nicht mit rhetorischen Fragen, sondern mit offenen Fragestellungen gearbeitet werden. „Indirekte, zirkuläre Fragetechniken können bei der Diagnostik hilfreich sein.“1)

Wichtig hierbei ist, Klienten zu ermutigen nachzufragen, sollten sie etwas nicht verstehen. Aber auch die Therapeuten sollten bei den Klienten immer wieder nachfragen und sich alles erklären lassen. Zudem sollten Therapeuten den Klienten erklären, was eine Psychotherapie überhaupt ist, wie diese aufgebaut ist und was ihr Ziel ist. „Dabei sollten auch die Rahmenbedingungen einer Psychotherapie erläutert werden, z. B. was die Schweigepflicht bedeutet oder welche Merkmale eine therapeutische Beziehung aufweist.“1)

Die Behandlungsgespräche müssen an die Sprachkenntnisse und Vorkenntnisse des Klienten angepasst werden.

„Auch die gängigen Diagnosesysteme wie die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD) oder das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM) und diagnostische Tests sind von einer westlichen Sichtweise geprägt und für Menschen aus anderen Kulturen möglicherweise weniger geeignet.“1)

Patienten verwenden Denkmuster, die von ihren Herkunftsländern geprägt sind, wenn sie psychologische Testbögen ausfüllen. Da diese nach westlichen Standards entwickelt wurden, kann es hier zu einer falschen Beantwortung und Auswertung kommen, was eine falsche Einstufung der Diagnose zur Folge haben kann. Dies bedeutet, dass ggf. im Diagnoseerhebungsverfahren gar nicht das erfasst wird, was erfasst werden soll. Hier müsste noch der jeweilige Hintergrund miteinfließen, sowohl bei den Fragen als auch für die Auswertung und Diagnoseerstellung. So könnte es zu einer Antwort noch den Hinweis geben, dass Personen aus westlichen Ländern eher so antworten und dies dann das Diagnoseergebnis hervorruft, Personen aus anderen Herkunftsländern eher so antworten und dann dieses Diagnoseergebnis hervorruft.5)

Die Selbstwirksamkeit der Klienten mit Flucht- oder Migrationshintergrund sollte nach Amrhein gestärkt werden, indem sie alle Informationen über ihr neues Umfeld erhalten und sich aktiv bei Freizeit-, Sportoder Kulturangeboten anmelden können. Zudem sollte ihnen aufgezeigt werden, wie sie Kontakt zu der Aufnahmegesellschaft, aber auch zu anderen Personen mit Fluchtoder Migrationshintergrund bekommen können.
Einsatz von Kulturvermittlern und Dolmetschern in der Therapie
Klienten werden zu Therapieterminen oft von Verwandten begleitet, die für sie übersetzen, oder es werden andere Mitarbeitende zu den Gesprächen gerufen, die das übernehmen sollen. Das kann sich negativ auf den Gesprächsverlauf auswirken, da Klienten sich ggf. nicht so frei und offen äußern können, wie sie es tun würden, wenn sie allein wären.

Auch bei den Übersetzenden kann es zu Überforderungssituationen kommen. Zudem ist es auch sehr schwer für Verwandte, negative Ergebnisse der Diagnosen oder Krankheitsverläufe zu übersetzen und ihren Angehörigen die traurigen und schlechten Nachrichten schonend beizubringen, die sie gerade selbst erfahren haben und direkt übersetzen sollen.

Die wenigsten Personen mit türkischem Migrationshintergrund benötigen eine Person, die für sie übersetzt. Diese Studie bezog sich nur auf türkischstämmige Personen, sodass diese Aussage nur über diesen Personenkreis angegeben werden kann.6)

Es können Dolmetscher oder Kulturvermittler eingesetzt werden. Der Vorteil bei den Zweiten ist, dass sie nicht nur sprachlich übersetzen, sondern auch die Kultur, Werte, Normen und Einstellungen von Personen aus den jeweiligen Herkunftsländern erläutern können.1)

Neutrale interkulturelle Vermittler können aufzeigen, warum diese Aussagen der Klienten getroffen wurden oder warum gerade dieses Verhalten gezeigt wurde und welche Bedeutung dahinterliegt. Sobald die Erklärungsphase beginnt, das Gegenüber zuhört und versteht, können evt. Missverständnisse direkt aus der Welt geschafft werden und es entstehen keine

Probleme oder Unmut. Ganz im Gegenteil entsteht ein Miteinander und gegenseitiges Verstehen und Annehmen. So wie dies im täglichen Alltag und im Beruf notwendig ist, so ist es auch bei den Therapieangeboten und Krankheitsdiagnosen wichtig. Bei Gesprächen mit Dolmetschern oder Kulturvermittlern befinden sich mehr Personen im Raum, die Übersetzung nimmt mehr Zeit in Anspruch und die jeweiligen Rollen und Aufgabenbereiche des Personals müssen im Vorfeld klar benannt und eingeordnet werden. Die Schweigepflicht und das Neutralitätsgebot gilt für das gesamte Personal. Bei dem Neutralitätsgebot darf das Personal keinerlei persönlichen Kontakt zu den Klienten haben. Dabei sollten Therapeuten sich schon vor dem Erstgespräch mit Patienten mit den Kulturvermittlern treffen und sich über die jeweilige Kultur informieren.

Nach den Klientengesprächen sollten sich Therapeuten, Dolmetscher oder Kulturvermittler noch zusammensetzen und diese nachbesprechen. „Dann können zum einen Informationen und Eindrücke über die Patienten ausgetauscht und Missverständnisse aufgeklärt werden, zum anderen haben die Dolmetscher die Möglichkeit, Fragen zu stellen, ihr Befinden und ihre Eindrücke während der Therapiestunde zu schildern oder Bedenken, zum Beispiel zu bestimmten Therapiemethoden, zu äußern.“1)

Problematisch beim Einsatz von Dolmetschern oder Kulturvermittlern ist die zeitaufwendige Antragstellung und je nach Aufenthaltsdauer ist das Sozialamt oder die Krankenkasse zuständig. „Verschiedene Anbieter bilden zu Sprach- und Kulturmittlern aus. Inzwischen ist die Fortbildung an bundesweit einheitlichen Ausbildungskriterien und Qualitätsstandards ausgerichtet. Die einjährige Fortbildung besteht aus 2 040 Unterrichtseinheiten und umfasst eine theoretische und eine praxisorientierte Phase. Die Zertifizierung erfolgt durch anerkannte Fort- und Weiterbildungsträger.“1)

Abschließend kann die Frage, ob das Therapieangebot bei der psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland für Personen mit Migrationshintergrund, der Aufnahmegesellschaft und den Personen mit Fluchthintergrund unterschiedlich strukturiert ist, klar mit Nein beantwortet werden, da es nur einzelne Einzelinitiativen gibt. In diesen Bereichen sollte vonseiten der Politik, Wissenschaft, Psychiater, Psychotherapeuten und der Gesellschaft noch viel entwickelt und angeboten werden, damit ein flächendeckendes ausreichendes Therapieangebot umgesetzt werden kann. Unser Gesundheitssystem sollte sich der vielfältigen Gesellschaft, den hier lebenden Menschen angepasst ändern und die Systeme sollten sich mit den einhergehenden Veränderungen befassen, die nötigen Testverfahren, Therapien, Angebote und Maßnahmen bereithalten.1)6)

Quellen
1) Amrhein, C. (2022): Interkulturelle Psychotherapie. Migrant:innen und Geflüchtete benötigen eine an ihre Bedürfnisse angepasste Behandlung. https://www.therapie.de/psyche/info/therapie/interkulturelle-psychotherapie/artikel/ 4) DGPPN - Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (2023): Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration. https://www.
dgppn.de/die-dgppn/referate/interkulturellepsychiatrie-und-psychotherapie-migration.html 5) Oerter, R./Montada, L. (2008): Entwicklungspsychologie. Weinheim und Basel, Beltz Verlag 6) Seeling, L. (2012): Ausgrenzung ist ein unglaublicher Stressfaktor. https://www.zeit.de/gesellschaft/2012-11/andreas-heinz-migrantenpsyche/komplettansicht