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Kritik an der offiziellen Psychotherapie

Die "vergessen Gesellschaft: Schuld ist immer Patient!"

Attribution

Wenn eine Patientin mir ihr Leid schildert, präsentiert sie meist eine Art Theorie darüber, warum sie erkrankt ist. Sie benutzt dafür Sätze wie: „Ich bin eben zu empfindlich.“ Oder: „Andere kriegen das doch auch hin!“ Oft höre ich: „Schon als Kind war ich irgendwie anders.“ Ein Lehrer sagte mir einmal: „Wenn ein Schüler einen anderen Schüler mobbt, dann ist das mein Versagen!“

Es ist alles deine Schuld! Es kann also nur an dir liegen!

Wenn wir bei solchen Aussagen genau hinhören, stellen wir fest, dass sie so etwas wie eine Erklärung dafür beinhalten, weshalb der Patient krank geworden ist. Wir sprechen bei diesem Vorgang von Attribution. Attribution bedeutet:

Wenn ein Phänomen (z. B. eine Erkrankung) auftaucht, werden zusätzliche Attribute (ein Merkmal, eine Eigenschaft, eine Entstehungstheorie) beigefügt. Dies geschieht meist ganz automatisch, oft sogar, ohne dass man sich dieses Vorganges bewusst ist. Dennoch hat dieser Vorgang wichtige Auswirkungen.

Beispiel: Ein Freund tritt Ihnen auf den Fuß, es tut höllisch weh. Vermutlich reagieren Sie negativer, wenn Sie glauben, dass er es mit Absicht oder aus Unachtsamkeit (= Ihre Theorie über die Ursache seiner Tat) getan hat. Wenn Sie hingegen denken, dass er ins Stolpern geraten und aus Versehen auf Ihrem Zeh gelandet ist, tut es zwar auch weh, aber Sie sind ihm nicht so böse.

Internale und externale Attribution
Grob können wir unterscheiden zwischen internalen, also inneren, und externalen, sprich äußeren Attributionen.

Bezogen auf die Entstehung einer Krankheit wäre dann eine internale Attribution in etwa:

Es liegt an mir. Ich bin selbst schuld. Ich war als Kind schon ein Schwächling. Die Krankheit ist entstanden, weil ich etwas falsch gemacht habe oder wegen meiner Schwäche oder meines Versagens oder weil ich genetisch schlecht ausgestattet bin. Im letzteren Fall könnte ich immerhin meinen Eltern die Schuld geben!

Eine externale Attribution könnte sein: Ich habe ein Burnout bekommen, weil die Schüler immer schwieriger geworden sind. Die Leistungsanforderungen in meiner Firma sind unmenschlich. Oder auch: Das Leben meint es eben nicht gut mit mir. Gott bestraft mich. Meine Frau hat mich verhext. Männer nutzen mich immer aus! Mit anderen Worten: Die Ursache für meine Krankheit liegt in meiner Umwelt. Beziehungsweise: Die Ursache liegt außerhalb von mir.


Fast alle Patienten sind davon überzeugt (ohne je darüber nachgedacht zu haben), dass ihre Krankheit von einer eigenen (erworbenen oder genetischen) Schwäche, einem eigenen Mangel oder Fehler verursacht worden ist. Darin stimmen sie mit der gesellschaftlichen Auffassung überein. Sie können sich sicherlich gut vorstellen, dass die Annahme einer internalen Verursachung ganz andere Behandlungsansätze erfordert als die Attribution auf äußere Faktoren: Im ersten Fall muss der Patient (immer m/w/d), im zweiten Fall die Umwelt verändert werden.

Psychotherapie als Bewahrer

Ich sehe es so, dass die Psychotherapie bis in die 1990er-Jahre gesellschaftliche Auslöser viel mehr auf dem Schirm hatte als heute. Sie ist gesellschaftsvergessen geworden. Als die Psychotherapie noch nicht Teil des Behandlungsapparates war – das änderte sich 1999 mit dem Psychotherapeutengesetz, PsychThG – verstand sie sich sehr viel mehr als kulturkritische Institution, zumal sie selbst noch nicht so richtig dazugehörte, eher Außenseiterin war. Sie betrachtete gesellschaftliche Vorgänge aus einer randständigen Perspektive.

Das Bett des Prokrustes

Heute ist sie vollständig integriert, die Vorgänge des Behandelns und der Honorierung sind geregelt. Klagt der Patient über äußere Belastungen, läuft er heutzutage Gefahr, mittels Gegenfrage wie: „Was mag das wohl mit Ihnen zu tun haben?“ auf sich selbst zurückgeworfen zu werden.

Wenn ich Patienten über ihre Erfahrungen in Therapien berichten höre, bin ich mir nicht immer ganz sicher, ob Psychotherapie ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems ist.

Ist Psychotherapie heute zum gesellschaftlichen Bewahrer geworden, zum Aufpasser und Anpasser? Ist sie vielleicht sogar, wie der französische Philosoph Michel Foucault es einmal ausdrückte, zur Geständniswissenschaft geworden?

Müsste sie sich heute statt auf Hippokrates (der medizinische Eid geht auf ihn zurück) nicht vielmehr auf Prokrustes berufen, den Riesen der griechischen Mythologie, der den Reisenden blutrünstig zurechtstutzte oder -streckte, wenn dieser nicht in das ihm gebotene Bett hineinpasste?

Psychotherapie als Rebellion

Sie werden schon bemerkt haben, dass ich besonders psychische Erkrankungen nicht nur als Erkrankungen des Systems Mensch betrachte, sondern ebenso als Erkrankungen des Systems Gesellschaft.

Wie sollte es auch anders sein? Sind wir nicht einerseits Produkte der Kultur, in der wir aufwachsen und andererseits auch Produzenten eben dieser Kultur? Insofern sind beide krank: Individuum und Gesellschaft. Daraus folgt, dass eine Psychotherapie nicht nur Reparatur, also Entstörung des Einzelnen sein kann, sondern immer auch Ermutigung zur Emanzipation von der Kultur, deren Teil wir sind, und damit zu ihrer Veränderung.

Wo sind aber emanzipatorische und gar revolutionäre Ansätze geblieben? Wo werden Symptome noch als warnende Signale einer tief in der Gesellschaft stattfindenden Verwesung von Mitmenschlichkeit verstanden? Wo werden Patienten zum Aufhebeln gesellschaftlicher Erstarrungen ermutigt? Wer betrachtet heute noch das individuelle Symptom als Widerspiegelung gesellschaftlicher Irrwege?

Was ist mit emanzipatorischen Therapieansätzen wie der Gestalttherapie? Wer hat ihr den anarchistischen Zahn gezogen? So schrieb 2004 der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter:

„Unter den therapeutischen Erfolgskriterien taucht der Begriff emanzipatorisch nicht mehr auf“.
Ein Symptom einer psychischen Erkrankung ist m. E. deshalb kein persönliches Versagen, sondern ein individuelles Phänomen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Fritz Perls, einer der Begründer der Gestalttherapie, und seine Kollegen haben dieses Dilemma einmal so wundervoll ausgedrückt:

„Es ist neurotisch, in einer neurotischen Gesellschaft nicht neurotisch zu sein“.

Sie sehen also: Wenn du gesund (und auf gesunde Weise krank) werden möchtest, gelingt dies nicht mit Anpassung, Wiederherstellung, Reparatur und so weiter; vielmehr musst du Regeln hinterfragen, Tabus verletzen, unverschämt werden, mit einem Wort: lernen, auf eine gesundkranke Weise verrückt zu sein.

Dazu möchte ich Sie ermutigen!

Die Kehrseite der Medaille der Gesellschafts-Vergessenheit der Psychotherapie ist ein Phänomen, das ich schon in einem früheren Beitrag vorgestellt habe. Weil dieses besonders wichtig, vielen Hilfesuchenden aber nicht bewusst ist, rufe ich es Ihnen noch einmal in Erinnerung: Krankheit und mangelnder Therapieerfolg als persönliches Versagen

Wenn also sowohl die Diagnose als auch Behandlungsplanung und Therapiemethode einem vermeintlichen Wissen der Behandler entspringen, müssen Sie auf diesem Weg auch erfolgreich sein. Natürlich gesteht sie Ihnen Zögern, Ängste, mangelnde Übung zu, sodass die Therapie eine gewisse Zeit beansprucht. Aber spätestens am Ende der Sitzungen muss es Ihnen besser gehen. Wenn nicht, sucht sie mit Ihnen noch nach bisher übersehenen Faktoren. Sie beantragt zusätzliche Sitzungen über das Höchstkontingent der Richtlinienpsychotherapie hinaus. Wenn sie geschickt ist, werden ihre Argumente vom Gutachter erhört.

Wenn sich dann immer noch keine deutliche Besserung bei Ihnen zeigt ... Ja, dann liegt es sicherlich nicht an der Behandlungsmethode; diese ist ja gut begründet worden. Auch am Therapeuten kann es nicht liegen, weil er sich regelmäßiger kollegialer Intervision unterzogen hat und die geforderten Fortbildungen nachweisen kann. Außerdem ist seine Intuition durch jahrelange Erfahrung geschult und selbstverständlich frei von jedem Projizieren! (Das ist ironisch gemeint!)


Es ist alles Ihre Schuld!

Es kann also nur an Ihnen liegen: Der Misserfolg ist Ihre Schuld. Vielleicht war Ihr Veränderungs-Widerstand zu groß, gab es einen geheimen Krankheitsgewinn, war der Thanatos, der Todestrieb, zu übermächtig und hat einen totalen Analysewiderstand in Ihnen erzeugt; möglich ist auch, dass Sie sich der verdeckten Vermeidung schuldig gemacht haben, etwas verdrängt, den Kontakt zu sich selbst unterbrochen haben oder dass Sie intellektuell überfordert waren.

Der Trick mit der Persönlichkeitsstörung

Eine für den Therapeuten sehr bequeme Form der Erklärung besteht darin, dass er Ihnen jetzt, am Ende der nicht erfolgreichen Therapie, eine Persönlichkeitsstörung attestiert; gerne wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung gewählt, weil dieser Zusatz die Schuld und Täterschaft so schön in dem Patienten verortet.1)

Eine solche Diagnose entlastet nämlich Behandler und Therapieverfahren vom Vorwurf der Inkompetenz: Eine Persönlichkeitsstörung gilt nämlich als schwer therapierbar! Und das war doch zu beweisen: Dass Sie die Schuld an dem Therapieversagen tragen! Also entlässt er Sie mit den wohlmeinenden Worten:

Ich kann leider nichts mehr für Sie tun. Gehen Sie weiterhin regelmäßig zu Ihrem Psychiater, um sich Tabletten verschreiben zu lassen!

Und dann fügt er noch hinzu:

Aber die müssen Sie dann auch regelmäßig nehmen!

Sein Vorwurf an Sie hat so doch noch ein kleines Ventil gefunden ...
Entnommen aus dem Blog

https://www.mindroad.de/blog/category/ blog-sackgassen.html

Literatur
1) Zum Thema empfehle ich Ihnen sehr die Beiträge des erfrischend streitbaren Klaus Schlagmann, 2021: Die Narzissmus-Lüge – Über den Missbrauch eines emanzipatorischen Mythos. S. Fischer Verlag

Dr. phil. Michael Mehrgardt Psychologischer Psychotherapeut und Autor Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.