Schreiben - Therapie mit heilsamer Wirkung
Interview mit Ingrid Langschwert
Liebe Frau Langschwert, wie sind Sie zum Schreiben als Therapiemethode gekommen? Oder anders gefragt: Wie haben Sie entdeckt, dass Schreiben eine heilsame Wirkung hat?
Das war ein weiter Weg. Denn als ich 2013 anfing, die heilsame Wirkung des kreativen Schreibens zu untersuchen, verstand man im deutschsprachigen Raum Schreiben noch als reines Arbeitsmittel: Es gab Bücher über die Gestaltung von Plots, über Rhetorik oder Kurse wie „Der perfekte Geschäftsbrief“.
Damals coachte ich eine Gruppe Arbeitsuchende. Sie wünschten sich Hilfe beim Formulieren ihrer Motivationsschreiben. Viele hatten bereits Bücher zum Thema gelesen, dennoch wirkten ihre Anschreiben floskelhaft, hölzern und unterwürfig.
Als ausgebildete Journalistin krempelte ich sofort die Ärmel hoch und unterbreitete kluge Vorschläge.
Zu meinem Erstaunen wurden diese aber rundweg abgelehnt: „Das kann ich doch so nicht schreiben!“ Egal, welche Formulierung ich vorschlug, ihre Anschreiben blieben nichtssagend, trocken und erfolglos. Da erkannte ich, dass ich mein Angebot vom Kopf auf die Füße stellen musste. Damit die Teilnehmer attraktive Anschreiben zu Papier bringen konnten, mussten sie sich selbst erst einmal als attraktive Mitarbeiter wahrnehmen! Doch wie sollte ich das schaffen?
Als ersten Schritt schlug ich ihnen vor, zunächst ein wenig zu üben, wie man lebendiger schreibt. So schrieben wir gemeinsam verschiedene Märchen, Fabeln und Kurzgeschichten – scheinbar nur zum Vergnügen. Umso mehr überraschte es mich, dass die ersten Teilnehmer bereits nach drei Schreibtreffen eine neue Arbeitsstelle gefunden hatten. Sie hatten selbstständig ihre Anschreiben so verändert, dass Arbeitgeber nun ihre Qualitäten wahrnehmen konnten.
Aber das hat doch mit Therapie wenig zu tun …
Da haben Sie völlig recht. Mit diesem unerwarteten Erfolg fing meine Suche nach den heilsamen Wirkungen des kreativen Schreibens erst an. Mir war nämlich aufgefallen, dass einige Mitglieder der Gruppe aufgrund der Arbeitssuche Symptome wie Ängste, Süchte oder affektive Störungen entwickelt hatten. Dennoch wollten sie sich keine Hilfe in Form einer klassischen Gesprächspsychotherapie suchen, denn in ihren Augen fehlte ihnen ja nur der Job. Ich fragte mich also, ob ich ihnen helfen könnte, mithilfe des Stiftes die Symptomatik zu verbessern. Ob ich in den inzwischen regelmäßig stattfindenden Schreibkurs etwas zusätzlich einbauen könnte, das ihnen helfen würde – ohne dass sie dabei das Gefühl haben würden, therapiert zu werden.
Mir war klar, dass ich sehr persönliche Schreibaufgaben stellen musste, um das Selbstbild geradezurücken und den Boden für neue Hoffnung zu bereiten. Doch wie sollte ich verhindern, dass Einzelne durch die persönlichen Geschichten in ein noch tieferes Loch rutschten?
Darüber gab und gibt es so gut wie keine Literatur. Ich war also auf eigenes Forschen angewiesen. Ein sozialpsychiatrisches Zentrum in meiner Nähe gab mir die Chance, dort über Jahre hinweg meine Schreibworkshops zu testen. In dieser Zeit kam es kein einziges Mal zu einer Retraumatisierung. Im Gegenteil, die Gruppenmitglieder gewannen deutlich an Selbstbewusstsein. Sie beteiligten sich plötzlich an Feierlichkeiten und trugen öffentlich eigene Gedichte und Kurzgeschichten vor. Sie nahmen vermehrt an den Sorgen und Nöten der anderen Anteil und verloren die Freude an den eigenen Texten auch dann nicht, wenn diese qualitativ nicht mit denen der anderen mithalten konnten.
Warum ist Schreiben heilsam? Was passiert beim Schreiben in unserer Psyche?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die heilsamen Wirkungen des Schreibens bestehen allein schon in der Aufrechterhaltung und Ausweitung unserer kognitiven Fähigkeiten, sind aber weitaus vielfältiger. Ich will mich hier auf die wichtigsten Aspekte beschränken.
Schreiben zwingt uns dazu, unsere Gedanken in eine logische, verständliche und nachvollziehbare Form zu gießen. Dies stößt bereits im zentralen Nervensystem einen Verarbeitungsprozess an. Wenn ich dazu noch meinen inneren emotionalen Zustand in Worte fassen muss, bewirkt das einen Distanzierungsprozess.
Der französische Philosoph Roland Barthes hat das einmal so formuliert: „Schon die Tatsache, dass mir die Sprache das Wort unerträglich zur Verfügung stellt, bewirkt unmittelbar ein gewisses Ertragen.“ Goethe betrachtet einen anderen heilsamen Aspekt des kreativen Schreibens: „Geschichten schreiben, ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“ Neuere Forschungen zeigen, dass kreatives Schreiben belastende Emotionen löst. Die Fähigkeit zur Selbstoffenbarung steigt. Der eigene Selbstwert und die eigene Selbstwirksamkeit rücken ins Blickfeld, die Überzeugung, ausschließlich Opfer zu sein, nimmt ab. Ein Gefühl der Kohärenz entsteht.
Für welche Patienten/Klienten ist die Schreibtherapie geeignet?
Grundsätzlich ist kreatives Schreiben für jedermann nützlich und heilsam, wenn es von ausgebildeten Menschen begleitet wird. Gewisse Gruppen profitieren allerdings mehr vom Schreiben als andere: Ganz besonders hilfreich ist es für traumatisierte Menschen, die sich ihrer Traumata noch nicht bewusst sind. Auch Menschen mit somatischen Krankheiten zeigen nach dem Schreiben eine deutliche Verbesserung ihrer Symptomatik.
Die Ärztin und Schreibtherapeutin Silke Heimes veröffentlicht Bücher mit speziellen Schreibanregungen etwa für Allergien, Atemwegserkrankungen oder Magen-Darm-Krankheiten. Auf vielen Krebsstationen, aber auch in Suchtkliniken sowie bei Ess- und Angsterkrankungen gehören Schreibangebote inzwischen zum festen Therapieprogramm. Ausbaufähig wären (biografische) Schreibangebote in der Jugend- und Seniorenarbeit sowie als Teil von Integrationskursen.
Warum speziell diese Gruppen?
Weil sich diese Gruppen an Wendepunkten befinden. Wenn Jugendliche, Flüchtlinge oder Senioren ihr bisheriges Leben, ihre bisherigen Erfahrungen als gelungen oder zumindest als sinnvoll bewerten, können sie mit Mut und Zuversicht die nächsten Herausforderungen ihres Lebens meistern. Voraussetzung für den Erfolg dieser Arbeit sind aber immer die Freiwilligkeit der Teilnahme, die sorgfältige Auswahl der Schreibanregungen sowie die Resonanz seitens der Gruppe und/oder des Therapeuten.
Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am Schreiben als Therapieform im Unterschied zu anderen kunsttherapeutischen Methoden?
Der Begriff „therapeutisches Schreiben“ oder auch die Vorstellung, kreativ-heilsames Schreiben rein auf seine therapeutische Wirkung zu beschränken, vermindert die heilsame Wirkung der Kreativität.
(Kreativ-heilsames) Schreiben gehört für mich zu den kreativen Therapiemethoden, die für einen leistungsfreien Raum stehen; einen Raum, in dem man sich – neugierig wie ein Kind – ausprobieren und selbst erfahren kann. Beim kreativen Schreibakt können und dürfen unbewusste Konflikte ins Bewusstsein gespült werden. Was dann mit ihnen geschieht, bleibt in der Entscheidung des Schreibenden. Die persönlichen Erfahrungen können in literarische Genres wie Poesie, Fantasy oder Heldenromane umgewandelt oder mithilfe passender Schreibaufgaben weiter reflektiert werden. Hier zeigt sich die besondere Dimension von Schreiben als Therapiemethode. Was wir beispielsweise malend oder tanzend ausdrücken, können wir später nur mit sprachlichen Mitteln weiter reflektieren. Beim kreativ-heilsamen Schreiben, das sich sehr nah am poesietherapeutischen Ansatz verortet, kann der Stift aber auch zum tieferen Reflektieren genutzt werden.
Damit ist also gemeint, dass man bei der Mal- oder Tanztherapie irgendwann zur weiteren Verarbeitung auf Sprache angewiesen ist, während man beim Schreiben innerhalb derselben Ausdrucksform bleiben und seine Themen immer umfassender und tiefer verarbeiten kann?
Nicht nur, Schreibende ersparen sich kostspielige Therapiezeit, denn der Stift übernimmt die Explorationsarbeit. Der Schreib-Coach/Schreibtherapeut kann sich auf das gemeinsame Betrachten dessen, was der Stift herausgeschrieben hat, konzentrieren. Falls Fragen auftauchen, werden neue Schreibaufgaben gestellt. Wenn Klienten oder die Patienten Erinnerungsfetzen zeigen dürfen, ohne dass damit gleich etwas
Therapeutisches „gemacht“ wird, lassen sich Deckerinnerungen oder Paramnesien umschiffen.
Ein weiterer Vorteil der Schreibtherapie liegt darin, dass viele Menschen auch mit Schreibaufgaben aus einem Buch – es gibt inzwischen gute Bücher zu diesem Thema – heilsame Wirkungen erzielen können. Wer allerdings feststellt, dass sich nach dem Schreiben eine hoffnungslose oder deprimierende Stimmung ausbreitet und über mehr als zwei Stunden bestehen bleibt, sollte sich UNBEDINGT an eine ausgebildete Fachkraft wenden.
Sie haben vorhin den Begriff Poesietherapie verwendet. Könnten Sie kurz erläutern, was man darunter versteht? Ist das eine eigene Therapieform, eine geschützte Bezeichnung?
Weder noch. Der Begriff „Poesietherapie“ kommt aus dem englischsprachigen Raum. Ende des 19. Jahrhunderts tauchten an amerikanischen Universitäten Seminare mit dem Titel creative-writing auf. Damals wurde darunter vor allem das spielerische Einüben literarischer Texte verstanden. Doch schnell entdeckten Pädagogen, dass solche Seminare die Persönlichkeitsentwicklung beschleunigten. In der Folge gab es immer mehr Creative-Writing-Kurse, die ihren Schwerpunkt bei der Persönlichkeitsentwicklung sahen. Daraufhin organisierten sich diese Pädagogen und Therapeuten im Berufsverband der Kreativen Therapien. Gleichzeitig entwickelten tiefenpsychologisch ausgebildete Therapeuten die poetry therapy, die auch die Analyse von Lese-Literatur (Bibliotherapie) beinhaltet. In Deutschland ist der Begriff der Poesietherapie nicht geschützt. Hierzulande gibt es folgerichtig nur einen Berufsverband. Er vereint inzwischen beide Strömungen.
Welche Therapie-Settings sind bei der Schreibtherapie möglich?
Das Besondere der Schreibtherapie liegt auch darin, dass sie im Gruppensetting besonders wirksam ist. Jedes Mitglied der Gruppe bekommt genügend Raum, seine Geschichte aufzuschreiben bzw. zu scribbeln. Wer seine Texte nach dem Schreiben in der Gruppe teilt, erhält dadurch Zeugenschaft bei traumatischen Erlebnissen, Anteilnahme, das Gefühl, wahrgenommen zu werden, und meist jede Menge Mitgefühl. Der nachgewiesene Nutzen von Selbsthilfegruppen kommt voll zum Tragen. Natürlich muss die Gruppe zunächst die Grundregeln des heilsamen Feedbacks lernen. Kreativ-heilsames Schreiben ist kein therapeutisches Schreiben. Therapeutisches Schreiben darf nur im therapeutischen Setting erfolgen. In dem Fall wird der Therapeut Schreibaufträge geben, die das Thema der vorangegangenen Sitzung vertiefen und erweitern sollen. Nützlich sind aber auch Traumtagebücher oder Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen Themen. Beim nächsten Sitzungstermin wird der Therapeut mit dem Patienten das Geschriebene diskutieren, analysieren und ins Therapieziel einordnen.
Beim kreativ-heilsamen Schreiben, das auch von Vertretern ohne Heilerlaubnis begleitet werden darf, sind verschiedene Settings möglich: Einzelarbeit wie im therapeutischen Setting, aber auch regelmäßig stattfindende Workshops, die kreatives Schreiben in erster Linie als vergnügliches Hobby verstehen.
Für Schreibaufgaben, bei denen Trauma-Themen auftauchen könnten, wie beim biografischen Schreiben, bevorzuge ich ein Setting, das eine unauffällige engmaschige Begleitung ermöglicht. Das sind z. B. Tages-, Wochenend- oder Urlaubsschreibworkshops.
Gibt es noch etwas, das Sie den Lesern mitteilen möchten?
Ja, ganz wichtig ist, dass kreativ-heilsames Schreiben in erster Linie vergnüglich sein darf. Lachen heilt nachhaltiger als Weinen.
Liebe Frau Langschwert, vielen Dank für das Interview und Ihre wertvollen Einblicke in die Wirkungen der Schreibtherapie.
Danke für die Einladung und die Möglichkeit, den Lesern die Freude und die Wirksamkeit des kreativ-heilsamen Schreibens näherbringen zu können.
Ingrid Langschwert, M. A. Journalistin, Schreibtherapeutin, systemischer Coach, Heilpraktikerin für Psychotherapie
Das Interview führte
Dr. phil. Andrea Faulstich Heilpraktikerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Schreibtherapeutin