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Bunt statt grau! Kunst- und Kreativtherapie

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Malen mit älteren und an Demenz erkrankten Menschen

Seit zehn Jahren arbeite ich in einem Seniorenheim mit hochbetagten und an Demenz erkrankten Menschen. Nach meiner Ausbildung an der Paracelsus Schule Stuttgart wurde der Gedanke geboren, die Kunst- und Kreativtherapie bei dieser Zielgruppe anzuwenden.

fotolia©mrspopman„Ich habe schon 40 Jahre keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt!“, „Für das Malen hatte ich nie Zeit!“, „Ha, man kann es ja direkt anschauen!“. So und ähnlich lauten die Aussagen der Senioren nach ihren ersten Malversuchen. Freilich ist am Anfang die eine oder andere Hemmschwelle zu überwinden. Oft fällt auch der typische Satz „Ich kann nicht malen ...“.

Haben die Senioren aber erst einmal erfahren, dass dieses plakative Selbsturteil so gar nicht stimmt, werden sie gelöster und mutiger. Wenn Alter und Erfahrung, unterschiedliche Malstile und Wesensarten der Teilnehmer in der maltherapeutischen Stunde zusammenkommen und um einen Tisch vereint sind, beginnen interessante und spannende Prozesse.

Es ist schön zu beobachten, wie viel Kraft und Lebensfreude die Bilder der alten Menschen ausstrahlen, und es ist überaus erfreulich, wenn Talente ohne Erfolgsdruck entdeckt werden, mit Farben und Formen experimentiert wird und die Teilnehmer Zutrauen zu sich selbst entwickeln. Da werden verloren geglaubte oder nie gehobene Schätze sichtbar.

Diese Seniorengeneration war ihr Leben lang produktiv. Sie gönnte sich wenig – existenzielle Sorgen um die Alltagsbelange waren stets gegenwärtig. Das Alter würdevoll zu leben, sich selbst je nach Neigung und Interesse als Individuum produktiv zu erleben: Das hielten die Besucher unserer ersten Ausstellung durchgängig für wichtig und zentral.

Was ist Lebensqualität im Alter?

Wie kann Lebensqualität im Alter geschaffen, erhalten und vielleicht sogar erhöht werden? Wer kann dazu in welcher Weise beitragen?

Menschen, die an Demenz erkrankt sind, verlieren mehr und mehr das Verhältnis zum zeitlichen Geschehen. Sie „fallen buchstäblich aus der Zeit“. Das Leben konzentriert sich immer mehr auf das Leben im Augenblick. Die Zukunft kann immer weniger geplant werden. Ebenso nimmt die Erinnerung an die Vergangenheit mit steigendem Grad der Demenz ab. Die Gestaltung der Gegenwart gewinnt so an Bedeutung. Sie wird Ausdruck der Lebensqualität.

Das bedeutet für die Alltagsgestaltung und Aktivierung, das Bewusstsein auf die Bedeutung des Augenblicks zu verlagern.

Cicely Saunders bringt es auf den Punkt: „Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben!“

Die Beschäftigung mit künstlerischen Tätigkeiten, sei es Musik oder bildende Kunst, verleiht dem Alltag Glanz. Nach einem Leben, das oftmals von viel Arbeit und Verzicht geprägt war, werden diese Elemente von den Senioren gerne angenommen, selbst wenn sie in der Lebensbiografie nicht verankert sind. Eine Bauersfrau aus meiner therapeutischen Malgruppe etwa meinte: „… gekocht habe ich mein ganzes Leben ... jetzt will ich malen!“

Doch nicht nur die künstlerische Beschäftigung und das Erleben des Augenblicks spielen eine entscheidende Rolle, wenn es um die Erfahrung von Lebensqualität geht, sondern auch ganz alltägliche Indikatoren. Da wären die sozialen Anzeichen als objektive Faktoren wie Einkommen, Gesundheitszustand oder Leistungsfähigkeit. Dazu kommen subjektive Indikatoren wie Furcht und Ängste, Hoffnungen oder Erwartungen, aber auch individuelle Problembewältigungsmuster. Diese Faktoren beschäftigen und belasten ältere Menschen sehr und haben Einfluss auf ihre Lebenszufriedenheit.

Die sozialen Indikatoren erscheinen mir besonders wichtig. Für alte Menschen ist es entscheidend, gebraucht zu werden und sich nicht überflüssig zu fühlen. „Ich will keine Last sein …“, hört man von älteren Menschen häufig. Oftmals wurde ein ganzes Leben lang der eigene Wert nach der vollbrachten Leistung definiert. Deshalb ist es für ältere Menschen entscheidend, die Möglichkeit zu haben, die eigene Selbstständigkeit zu erhalten, um möglichst lange mobil und eigenständig zu bleiben.

Ich habe in meiner praktischen Tätigkeit mit Senioren erfahren, dass sie sich sehr gerne auf Neues und Anregendes einlassen, dass das Interesse an Neuem, wenn es in einen verlässlichen und rituellen Rahmen eingebettet ist, durch Demenz nicht verloren geht!

Besonders wichtig ist es, sich mit der eigenen Lebensgeschichte zu versöhnen, Verluste zu akzeptieren und auf eine bewältigte Vergangenheit blicken zu können. Letztendlich ist es auch von größter Bedeutung, die Endlichkeit des eigenen Lebens anzunehmen.

Kunst- und Kreativtherapie – Schwerpunkte des therapeutischen Malens und Gestaltens in der Seniorenarbeit

Das biologische Gesetz der Anpassung besagt: „Was nicht weiter gebraucht wird, geht mit steigendem Alter verloren.“ Umgekehrt gilt: Bewegungsmuster werden aktiviert und reaktiviert, wenn sie ausgeführt, wiederholt und geübt werden. Dann bleiben sie erhalten.

Die Schwerpunkte der therapeutisch-künstlerischen Arbeit mit Senioren liegen auf:

  • der Aktivierung der Senioren durch künstlerisch-kreatives Arbeiten
  • den psychosozialen Aspekten
  • der Biografiearbeit

Der psychosoziale Aspekt schließt die affektiven, gefühlsbedingten Erfahrungen mit ein. Die personenzentrierte Sichtweise stellt nicht die Defizite, sondern die Ressourcen in den Vordergrund. Bei alten Menschen sollte dabei nicht nur auf Ressourcen geachtet werden, die noch da sind, sondern ebenso sehr auf die, die jetzt da sind.

Wenn die intellektuellen Fähigkeiten abnehmen, blühen vielleicht emotionale Qualitäten auf, die lange brachgelegen haben. All das ist Teil des lebendigen Entwicklungsprozesses, der in dieser Phase auf das Ende des Lebens hinführt.

Um die damit verbundenen körperlichen und geistigen Veränderungen zu bewältigen, brauchen Menschen jetzt möglicherweise ganz andere Ressourcen als die, die wir als solche zu sehen gewohnt sind. „Vergessen“ z. B., das allgemein als Defizit betrachtet wird, kann zur Ressource werden auf einer Wegstrecke, auf der es auch darum geht, Ballast abzuwerfen. Und zeitweise wird die innere Realität jetzt wichtiger als die äußere. (Marlis Pörtner, 2006)

Und gerade hier stellt das therapeutische Malen ein hervorragendes Mittel dar, um die Klienten auf ihrem Weg zu begleiten und sie dabei individuell zu unterstützen.

2017 01 Malen3Malen mit demenzkranken Menschen fördert den Menschen und trägt u. a. dazu bei, Symbole, Farben und Bilder in Erinnerung zu behalten. Dem Verlust der örtlichen Orientierung kann dadurch vorgebeugt werden. (Kerres und Falk, 1996, S. 60–61)

Im Mittelpunkt steht der Mensch. Aber ein Mensch, der im Augenblick sehr weit von sich entfernt ist, verlangt, dass man ihm eine Methode nennt, wie er aus der Entfremdung herauskommt. Ich glaube schon, dass die Kunst das leisten kann, und – radikal gesagt – gibt es überhaupt keine andere Methode, die noch übrig bleibt, als die Kunst. Also werde ich der Kunst auch die zentrale Rolle einräumen. (Joseph Beuys, 2005)

Künstlerisches Gestalten ist untrennbar mit der Wahrnehmung verbunden. Einem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich gestalterisch auszudrücken, ist mehr als nur bloße Beschäftigung. Durch diese Art der Aktivierung wird ein Zusammenspiel von Leib, Seele und Geist gefördert, die die Person ganzheitlich anspricht und aktiviert. Dabei ist es egal, ob eine Klientin oder ein Klient schon immer gemalt hat oder zuletzt in der Schule. Durch die künstlerisch kreative Arbeitsweise erreichen wir die Menschen. Das bedeutet, wir fördern nicht nur die Feinmotorik, sondern versetzen das seelische Erleben in Schwingung und ermöglichen die geistige Auseinandersetzung mit den Dingen. Die körperliche und psychische Verfassung eines Menschen bedingen sich gegenseitig. Das therapeutische Malen bietet eine Möglichkeit, dem eigenen Befinden Ausdruck zu verleihen sowie biografisch zu arbeiten.

Allgemein gesehen ist Gestaltung letztendlich Bestandteil jeder Handlung und somit Teil der Person, die sie ausführt. Wenn man Gestaltung beeinflusst, nimmt man immer auch Einfluss auf die Persönlichkeit. Der Mensch – egal welchen Alters – entwickelt sich in Abhängigkeit zu seiner Umwelt und seinen Handlungsmöglichkeiten. Indem wir die Umwelt der Senioren mit kreativen Handlungselementen bereichern, erweitern wir ihre Handlungsmöglichkeiten.

Durch ein regelmäßig stattfindendes therapeutisches Malangebot leisten wir einen beachtlichen Beitrag, um wertvolle Fähigkeiten und Fertigkeiten der Senioren und somit ihre Selbstständigkeit zu erhalten, was wiederum zur Lebensqualität beiträgt. Für die Senioren können regelmäßige Angebote Elemente sein, die den Lebensrhythmus bzw. die Struktur des Tages oder der Woche bewusster erleben lässt. Das gilt z. B. für die Wahrnehmung der Jahreszeiten, die im Malen thematisiert werden. Das Erleben von Zeiten des schöpferischen Arbeitens und der darauf folgenden Ruhezeiten ermöglicht es, eine innere Zufriedenheit zu erfahren, die die älteren Menschen aus ihrer Arbeitswelt von früher kennen.

Jedes persönliche Lebenskonzept und die Arbeit an der individuellen Biografie fließen in die Planung und Durchführung von therapeutischen Malstunden ein. Die persönliche Biografie, die Anforderungen des Alltags oder die individuelle Tagesbefindlichkeit können zu Bezugspunkten für die gestalterische Arbeit werden. Manchmal besteht der therapeutische Inhalt einer Malstunde für die Teilnehmer einfach nur im Umgang mit Farben, dem Malen und Gestalten, als eine Form, dem eigenen Selbst Ausdruck zu verleihen, und durch das Tun Freude zu erleben. Dieses handelnde Erleben wirkt sich stabilisierend auf das seelische Befinden der Teilnehmer aus und löst gleichzeitig innere Blockaden.

Die Biografiearbeit in der Maltherapie findet bei jedem Thema individuell statt. Ausgehend vom jeweiligen Thema knüpfen wir im Gespräch an Vergangenes und Erinnerbares an. Wird z. B. im Herbst zur Erntezeit ein Ährenstrauß gemalt, berichten die Teilnehmer von der Erntezeit. Möglicherweise erzählen sie dann, wie sie im elterlichen Betrieb mithelfen mussten, dass die Schulzeiten der Ernte angepasst waren usw. Jede Person bringt ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu diesem Thema mit ein. Auch Gefühle werden dabei an- und ausgesprochen, Erlebtes mitgeteilt und Wissen durch das Aufzählen der Getreidesorten erhalten. So oder so ähnlich kann man bei fast allen Themen gut und selbstverständlich ins Gespräch kommen.

Vom Eindruck zum Ausdruck

Sehen wir ein Bild an oder hören Musik, bewegt uns das, löst Erinnerung aus und fördert Gefühle zutage. Das Bild oder die Musik ergreift von uns Besitz, rührt etwas in uns an, lässt uns schwingen und klingen. Ich konnte in meiner Arbeit schon oft beobachten, dass sich ein Gesicht plötzlich erhellte und eine Brücke zur Erinnerung gefunden wurde. Das „Ich“ konnte sich plötzlich wieder verorten und auf dem Papier Spuren hinterlassen.

So betrachtet sind wir „Wegbahner“, damit schöpferische Kräfte geweckt und ausgeübt werden können. Dieser Handlungsansatz setzt die Therapeuten und Klienten auf eine Ebene, die Ebene des Miteinanders. Eindrücke werden in gegenseitiger Wertschätzung geteilt und zum individuellen Ausdruck gebracht.

Auswirkung des Malens auf die Beweglichkeit

Wir unterscheiden zwischen den folgenden Beweglichkeiten:

  • Die psychische Beweglichkeit wirkt sich auf die Balance von Gefühlen und Empfindungen aus.
  • Die geistige Beweglichkeit hält das Interesse an sich selbst und an anderen Menschen und dem Weltgeschehen wach.
  • Die körperliche Beweglichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen selbstständig handeln und tätig sein können.
  • Die soziale Beweglichkeit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen und erhalten zu können.

Alles Leben ist Bewegung und Veränderung. Entziehen wir uns diesem Prozess, sind wir nicht mehr lebendig und präsent. Auch Menschen mit Demenz wollen lebendige Mitglieder unserer Gesellschaft sein. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu erschaffen.

Durch die maltherapeutischen Angebote ermöglichen wir den Menschen, einen Ausdruck ihres Selbst zu finden, eine Art der Kommunikation, ein Sichmitteilen. Wenn ältere und demenzkranke Menschen sich mitteilen und kommunizieren, werden sie wieder Teil des Ganzen – sie gehören dazu. Die Förderung der Beweglichkeit birgt neben den Vorteilen die Möglichkeit für die Klienten, ihre eigene Lebensbiografie in gesellschaftlicher Nähe auszuleben und sich trotz ihrer Einschränkungen als vollwertige Mitglieder zu fühlen. Das hat für mich sehr viel mit Menschenwürde zu tun. Dieses künstlerische Prinzip, vom „Eindruck zum Ausdruck“ zu gelangen, ist der Schlüssel der Gestaltung schlechthin.

Demenziell veränderte Menschen sind unfreiwillig in diese Position geraten. Aber gerade durch diese Krankheit können Lebensanteile und Begabungen, die ein Leben lang verschüttet waren, entdeckt und oft erstmals gelebt werden.

Eines möchte ich hier klar und deutlich als Ermutigung sagen: Ich gehe aus jeder therapeutischen Malstunde mit ebenso vielen positiven und freudigen Erlebnissen hinaus, wie ich an Engagement und Vorbereitung hineingegeben habe. Eine Teilnehmerin der Malgruppe antwortete auf die Frage, was ihr die Malstunde bedeutet, Folgendes: „Da weiß ich morgens, dass es sich lohnt, aufzustehen.“

Literatur

  • Lutzeyer, H.: Malen mit alten und demenziell erkrankten Menschen, Elsevier Verlag, 2016, ISBN 978-3-43725-024-8 E-Book, ISBN 978-3-43717-089-8
  • Beuys, J.: VG Bild-Kunst, 2005
  • Leutkart, C./Wieland, E./Wirtensohn-Baader, I.: Kunsttherapie – aus der Praxis für die Praxis – Materialien-Methoden-Übungsverläufe. Verlag modernes lernen, 2003
  • Feil, N.: Validation, Delle Karth Verlag, 1990
  • Feldenkrais, M.: Bewußtheit durch Bewegung, Suhrkamp, 1978
  • Ganß, M.: Demenz-Kunst und Kunsttherapie, Mabuse Verlag, 2013
  • Kerres, A./Falk, J./Kunz, B.: Kommunikative Unterrichtsgestaltung, Verlag Hagen, 1996
  • van der Kooij, C.: Gefühle und Intuition als Weg zur Kontaktaufnahme, GeroCare Report, 02/1996, S. 7-17, KDA Köln
  • Pörtner, M.: Alt sein ist anders, Gesprächspsychotherapie und personenzentrierte Beratung, 01/2006, S. 5-6, GwG-Verlag

Heike LutzeyerHeike Lutzeyer
Dipl. Rhythmikerin, Psychosoziale Kunsttherapeutin, Weiterbildung in Motogeragogik, Autorin, freischaffende Künstlerin

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