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Interkulturelle Kompetenz für die Praxis – Teil 5

2017 01 Kompetenz1

Meine Tante, selbst schon 84 Jahre alt, gehörte 2015 in unserer Stadt zu den ersten Freiwilligen, die sich der Flüchtlinge, die plötzlich zu uns kamen, ehrenamtlich annahmen. Sie unterrichtete Deutsch, zeigte die Stadt, begleitete zu Ärzten. Als sie zusätzlich eine syrische Familie unter ihre Fittiche nahm, merkte sie eines Tages, dass es zu viel werden könnte.

fotolia©KarepaSie kam an ihre Grenzen. Sie weinte sich erschöpft an meiner Schulter aus und schwankte zwischen zwei widerstreitenden Gefühlen: sich ausgenutzt zu fühlen einerseits und sich selbst nicht gut genug zu sein andererseits. Das waren zunächst einmal ihre ganz eigenen persönlichen Grenzen, die sie da spürte. Dennoch erwischt es fast jeden, der dieser Tage mit Flüchtlingen arbeitet, sei es ehrenamtlich oder beruflich, in der direkten Flüchtlingsund Migrationsbetreuung oder in der „zweiten Reihe“ der Sozialarbeit, in der Betreuung, im Krankenhaus und in der Praxis, therapeutisch und pflegend, aber auch in Behörden und Unternehmen.

Chancen und Grenzen – was könnte das in diesem Zusammenhang bedeuten? Ist das Erkennen einer Chance schon automatisch ein Erfolg? Könnte eine Grenze nicht auch einfach nur eine Hürde sein – oder eine Herausforderung? Vieles im Leben hängt von unserer persönlichen Einstellung zum jeweiligen Thema ab und von dem, was wir erreichen wollen. Hilfreich sind immer eine Begriffsklärung und die Definition der Ziele, die wir jeweils anstreben, unter Berücksichtigung unserer individuellen, aber auch der gesamtgesellschaftlichen, kulturellen oder rechtlichen Möglichkeiten sowie der Berücksichtigung von Zuständigkeiten. In meinen Seminaren zur interkulturellen Kommunikation werde ich oft gefragt, worin denn genau die Chance besteht, die sich durch den Erwerb interkultureller Kompetenz ergeben soll? „Wir“ würden doch im Wesentlichen lernen, wie wir mit „den Fremden“ besser umgehen können, was ihnen nütze, aber nicht uns. Und schnell sind wir dann beim Thema „Hol- versus Bringschuld“: „Wenn DER hierherkommt, soll ER sich anpassen!“ Dabei liegt genau in diesem Gedanken sogar eine Chance. Wenn ich dem Fremden, der neu ist in meinem Land, oder der bisher noch nicht verstanden hat, wie es hier läuft in meiner Kultur, erklären kann, woran er sich anpassen soll, in welchem Umfang, dann bin ich doch im Vorteil.

Um das zu können, bedarf ich des Wissens um grundlegende kulturelle Unterschiede zwischen kulturell unterschiedlich konditionierten Menschen und vor allem auch um die sog. Werte, die erhalten und gefördert werden sollen. Und es gibt auch oft genug kulturelle Gemeinsamkeiten, auf denen man aufbauen kann.

Um diese zu entdecken, muss ich mich ebenfalls mit kulturellen Gegebenheiten auseinandersetzen. Ich muss also kulturell und interkulturell kompetent sein, damit ich von jemand anderem Vergleichbares erwarten kann. Insofern mag es zwar legitim sein, zu erwarten, dass jeder Mensch, der aus welchen Gründen auch immer nach Deutschland kommt, sich selbst informieren muss und die Bereitschaft mitbringen sollte, die wesentlichen kulturellen und rechtlichen Werte des Aufnahmelandes zu akzeptieren und zu respektieren – es ist jedoch lebensfremd, zu erwarten, dass das ohne jede Professionalität reibungslos funktioniert. Das gilt für Migranten (immer m/w), jedoch ganz besonders auch für Flüchtlinge.

Anders noch als Migranten, die sich oft ganz bewusst für Deutschland entschieden haben und die vielleicht schon lange in Deutschland leben, sind Flüchtlinge von ganz anderen Problemen des täglichen Lebens betroffen. Sie sind häufig traumatisiert, leiden zumindest meist unter Anpassungsstörungen oder Kulturschock, haben im gesamten langen Asylprozess die Deutungshoheit über ihr Leben in weiten Teilen abgegeben, sitzen im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Wartebank, Tag für Tag, Monat für Monat. Das macht Menschen nicht aufnahmefähiger für Neues.

Auch hier liegt für alle Menschen, die mit ihnen arbeiten, eine Chance im Erwerb interkultureller Kompetenz. Sie hilft nämlich, mit diesen Menschen besser in Verbindung zu treten. Was will ich vom anderen? Es ist immer wieder diese Frage, die man sich stellen darf. Wie kann ich meine Ziele effektiv und effizient verwirklichen?

Viele Unternehmen und Behörden, die mit Migranten arbeiten oder die Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigen und die diese zu ihren Kunden und Klienten zählen, integrieren aus diesem Grunde mittlerweile interkulturelle Kompetenz als eine soziale Kompetenz in ihre Personalentwicklung. Warum sollen wir, die wir beratend, in der Sozialarbeit sowie therapeutisch oder pflegend arbeiten, diese Chance vergeben? Unsere Chance ist es, zu verstehen, dass wir nicht in einer homogenen Welt leben, in der die Dinge genauso sind, wie wir sie gerne hätten, sondern dass wir uns den Gegebenheiten stellen und sie positiv in unsere eigene Lebens- und Arbeitsplanung miteinbeziehen.

Die Fähigkeit, mit kultureller Vielfalt positiv umgehen zu können, ist und wird zunehmend eine Schlüsselkompetenz. Ein Schlüssel schließt auf, öffnet Türen. Interkulturelle Kompetenz ist ein solcher Schlüssel, der Türen öffnet. Sie ist in jedem Fall eine soziale Kompetenz, um den Ausschluss von Menschen vom gesellschaftlichen und beruflichen Leben zu verhindern. Je nach Bedarf im beruflichen Kontext ist sie ebenfalls eine fachliche Kompetenz, deren Vorhandensein essenziell für die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe sein kann.

Ahmad kommt aus dem Irak. Er ist 26 Jahre alt. Er hat in Bagdad Abitur gemacht und einen Bachelor in Elektrotechnik. Hier sitzt er in der Gemeinschaftsunterkunft auf dem Lande fast den ganzen Tag auf dem Sofa. Er sieht meist mürrisch aus. Wenn ich mit ihm rede, habe ich das Gefühl, ich erreiche ihn nicht. Nein, den Deutschunterricht will er nicht mitmachen, er will einen richtigen Kurs, draußen in der Stadt. Interkulturelle Kompetenz? Braucht er nicht, wozu? Er kommt sowieso nicht raus. Er möchte studieren, auf Deutsch, nein nicht auf Englisch. Wie viele der Bewohner hat er teilweise resigniert, vergräbt sich in sein Leid hier. „Alle reden nur, keiner hilft mir“.

Ich möchte ihm gerne helfen. Meine Möglichkeiten sind allerdings begrenzt. Meine Zuständigkeit in der sozialpädagogischen Betreuung reicht nicht bis zum Einfluss auf Asylverfahren, Anerkennung von Leistungen, Unterbringung. Habe ich hier schon die Grenzen des Machbaren erreicht?

Ich habe mich dafür entschieden, zunächst einmal einfach da zu sein. Ich höre mir die Problematik und die Probleme der Bewohner der Unterkunft an, in der ich arbeite, und betrachte sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich verfolge aufmerksam, welche Erklärungsmodelle geliefert werden, versuche Ressourcen herauszuarbeiten, um zu verhindern, dass meine eigenen Interventionen oder möglichen Angebote ins Leere laufen. Mit anderen Worten: Ich versuche, Lösungskonzepte zu erarbeiten, die Ahmad (und andere Bewohner) auch ansprechen, die ihnen erst einmal helfen, aus dem Loch, in dem sie feststecken, ein Stückchen weit herauszukommen. Wichtige Aspekte jeglicher Gesundung (nicht nur bei Migranten und Flüchtlingen) sind nämlich, dass man seine eigenen Lebensumstände versteht, den Glauben hat, Einfluss auf diese zu haben, und in allem einen tieferen für sich positiven Sinn sieht.

An die Grenzen interkultureller Kommunikation kommt man:

  • Wenn Menschen, die man erreichen will, unter sich bleiben. Sei es, dass sie es müssen (Flüchtlinge, billiger Wohnraum), sei es, dass sie es wollen (Nähe zu anderen mit gleicher kultureller, religiöser oder staatlicher Herkunft).
  • Wenn es nur auf behördlicher Ebene Berührungspunkte mit der aufnehmenden Kultur gibt.
  • Wenn die Verständigungsebenen stark voneinander abweichen (Sozialstruktur, Bildung, Ausbildung, Sprache, Bedürfnisse …)
  • Wenn politische, gesetzliche Regelungen hinderlich sind.
  • Wenn alle Beteiligten auf Standpunkten beharren, ohne an konkreten Lösungen zu arbeiten (Bring- versus Holschuld, Anspruchsdenken, Verweigerung, Wahrnehmung, Deutungshoheit ...)
  • Wenn das Sicherheitsbedürfnis der einheimischen Gesellschaft nicht ernst genommen wird.
  • Wenn jemand nicht will oder kann.
  • Wenn die Menschen, die täglich mit „Fremden“ arbeiten, sich nicht abgrenzen können.
  • Wenn sie nicht über interkulturelle Kompetenz verfügen.
  • Wenn es keine für alle Beteiligten (Fremde und Einheimische) gültigen Spielregeln gibt.

Herr Y. aus dem Jemen erhält mit seiner Familie Leistungen über die Jobagentur. Bei einem seiner Gespräche wird er darum gebeten, seine Frau mitzubringen. Sie habe bisher keinen der ihr genannten Termine eingehalten. Herr Y. erklärt, dass seine Frau sich um die Kinder kümmern müsse und deshalb nicht kommen könne. Er sei doch da. Der Mitarbeiter versucht zu erklären, dass seine Frau selber erscheinen muss und vor allem auch die Bereitschaft zeigen muss, eine Arbeit aufzunehmen bzw. die Voraussetzungen dafür zu erlangen. Schließlich können die Kinder in die nachschulische Betreuung gehen. Herr Y. lehnt dieses kategorisch ab. Seine Frau würde nicht außer Haus arbeiten.

Dieses Beispiel aus der Praxis eines Jobcenters in Berlin wurde in einem Seminar besprochen. Chancen und Grenzen interkultureller Kompetenz. Wir kamen zu keinem abschließenden Ergebnis, mussten uns aber eingestehen, dass wir hier unter Umständen feststecken. Wenn Familie Y. nicht bereit ist, die hier bestehenden Rechtslagen anzuerkennen, wird es Konsequenzen geben. Insofern ist auf dieser Ebene eine Grenze erreicht. Im Rahmen einer sozialen Betreuung bzw. einer nennenswerten Integrationspolitik gäbe es hingegen wahrscheinlich noch Handlungsspielraum.

Frau A. aus Afghanistan leidet. Sie kann nicht lesen und schreiben, denn ein Schulbesuch war für Mädchen in ihrer Jugend in Afghanistan nicht möglich. Ihr ältester Sohn wurde auf offener Straße vor den Augen der Töchter erschossen, von einem Mann, der unbedingt die 13-jährige Tochter hatte heiraten wollen. Als beinahe noch der Ehemann bei einem Anschlag getötet wird, beschließt die ganze Familie, das Land zu verlassen. Frau A. ist jetzt in Deutschland, ihre Töchter und der jüngere Sohn gehen in die Schule, Herr A. erledigt alle Behördenangelegenheiten und besucht auch schon einen Deutschkurs. Für Frau A. gibt es Aussicht auf einen Alphabetisierungskurs 2018(!). Letztens war sie wegen eines Schwächeanfalls in der Notfallaufnahme.

Familie A. wird vom Sozialamt und dem Jobcenter betreut. Herr A. und die Kinder besuchen schulische Einrichtungen. Alle werden von Ärzten wegen ihrer traumatischen Erlebnisse behandelt und Frau A. hatte bereits mehrere Termine bei einer Psychiaterin wegen ihrer Panikattacken. Herr A. möchte so schnell wie möglich einen Praktikumsplatz bekommen und dann arbeiten. Die Familie ist hochmotiviert. Ob ihre Integration in das bestehende System gelingen wird, ist zum einen natürlich davon abhängig, ob sie bleiben darf. Und davon, wieweit sich die Familie auf das für sie fremde kulturelle System einlässt, wie ihnen das aufnehmende Land, Behörden und Menschen begegnen, mit denen sie täglich zu tun haben, und inwieweit eine Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse möglich sein wird.

Meine Tante fragte mich unlängst, warum sich „ihre“ syrische Familie so an sie klammere. Sie hatte eigentlich ehrenamtlich neben dem Deutschunterricht nur ein wenig Willkommenskultur anbieten wollen. Nun fühle sie sich, als sei sie die persönliche Beraterin und Assistentin der gesamten Familie. Diese käme mit allen Fragen, allen Briefen, allen Problemen zu ihr.

In Syrien gibt es kaum noch funktionierende bürokratische Strukturen. Wer etwas will, muss jemanden kennen und vor allem muss er „am Ball“ bleiben. Das deutsche System von Ordnung, Plan, Zuständigkeiten, Zeiten, Distanz und Nähe ist häufig unbekannt. Die syrische Familie kam in Deutschland an, fremd, mit Vorstellungen, die so nicht mit der Realität übereinstimmten, allein, ängstlich, gleichzeitig aber auch gewillt, ihr Leben schnell wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Hier gab es jedoch erst einmal das Containerdorf, nicht durchschaubare Zuständigkeiten, ein Gefühl von Hilflosigkeit.

Meine Tante wirkte da wie die Leuchtboje im fremden Ozean, um sich festzuhalten, Hilfe zu erhoffen. Meine Tante, mit einem großen Herzen gesegnet, jedoch nicht geschult, auch nicht darin, sich sachlich, inhaltlich und vor allem emotional abzugrenzen, hatte die Tore der Hilfsbereitschaft weit offen. Diese Konstellation führte dann zu ihren beschriebenen Erschöpfungssymptomen.

Schauen wir uns einmal die Bedürfnispyramide nach Maslow an. Abraham Maslow gilt als Gründervater der Humanistischen Psychologie. Die Pyramide verteilt auf verschiedenen Ebenen Bedürfnisse, an denen Menschen sich überwiegend orientieren:

Selbstverwirklichung
Individualbedürfnisse
Soziale Bedürfnisse
Sicherheit und Schutz
Physiologische Bedürfnisse

Die meisten Menschen, die in Deutschland leben, suchen derzeit Erfüllung der beiden oberen Bedürfnisse: der Individualbedürfnisse und, als „Sahnehäubchen“, der Selbstverwirklichung. Viele Migranten sind mittlerweile ebenfalls weit oben angelangt. Kommen sie aber aus kollektivistischen Kulturen, werden die sozialen Bedürfnisse über die Individualbedürfnisse gestellt. Selbstverwirklichung steht den familiären Strukturen oft nahezu chancenlos gegenüber. Wer sich dennoch traut, den gewohnten sozialen Rahmen zu verlassen, begibt sich oft buchstäblich in Gefahr.

Die meisten Flüchtlinge haben hier bereits eine Befriedigung ihrer physiologischen Bedürfnisse erfahren. Das Gefühl von Schutz und Sicherheit aber ist sehr häufig noch nicht gegeben. Ganz besonders dann nicht, wenn die Wohnverhältnisse keine Rückzugsmöglichkeiten bieten, das Leben eingegrenzt und begrenzt wird, und sich das Gefühl von Sicherheit schon allein aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten kaum bilden kann. Wenn Traumata hinzukommen, seien sie körperlich, seien sie psychisch, wird sich ein Sicherheitsgefühl noch schwerer einstellen. Die Bedürfnisse, die solche Menschen haben, können nur auf dieser Ebene befriedigt werden, nicht auf einer anderen, weil sie den Helfenden gerade so sinnvoll erscheint.

Je nachdem, wie groß die jeweilige Bedürfnisdifferenz zwischen Beteiligten in einem „Beziehungsspiel“ ist, desto größer ist die Möglichkeit, in der Kommunikation an Grenzen zu stoßen. Und alle Beteiligten wundern sich, waren die Absichten doch die allerbesten.

Meine Tante hat vor einiger Zeit aufgehört, Deutschunterricht zu geben. Sie kümmert sich nur noch um die syrische Familie. Ich habe ihr erklärt, dass sie auch einmal „abgeben“ muss. Es gibt die Migrationsberatung, das Sozialamt und andere Beteiligte. Sie findet für die Familie heraus, wer für bestimmte Fragestellungen oder Hilfeleistungen zuständig ist, und manchmal begleitet sie Familienmitglieder dann doch, damit es schneller geht.

Ein Junge geht zur Schule, der andere hat durch meine Tante einen Praktikumsplatz als Steinmetz erhalten und die Aussicht, nach dem Deutschkurs eine Lehrstelle zu bekommen. Der Meister ist ganz angetan, sucht er doch dringend einen Azubi. Eine Wohnung hat die Familie jetzt auch schon ganz in der Nähe meiner Tante, die mitbekommen hatte, dass diese Wohnung frei wird. Sie hat jetzt ein wenig eine Großmutterfunktion übernommen. Das ist gut für die Familie und für meine Tante.

Es gibt Grenzen, nicht alles kann man regeln, nicht überall helfen. Aber in unserer grundsätzlich pluralistisch und freiheitlich ausgerichteten Gesellschaft liegt auch eine Chance, diese Migrationsströme, die Deutschland treffen und de facto zu einem Einwanderungsland machen, so zu leiten, dass eine Integration der Fremden in unsere kulturelle Welt möglich ist, ohne dass diese zerstört wird und ohne dass die Fremden dazu gedrängt werden, sich komplett zu assimilieren.

Carola SeelerCarola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin, Coach, Autorin

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