Die Natur als therapeutischer Raum
Sich selbst erkennen im Spiegel der Natur und die Begleitung durch den Therapeuten
Wie gerne ziehen wir uns zur Erholung, Entspannung und zur Regeneration zurück in die Natur. Wir steigen auf den Berg, setzen uns ans Meer oder gehen in den Garten und arbeiten mit den Händen in der Erde. Auch wenn wir uns dabei körperlich anstrengen, findet im Inneren des Menschen doch ein heilsamer Prozess statt, der Geist kommt zur Ruhe, wir spüren unseren Körper wieder und die Seele – hier als Ausdruck der psychischen Gesamtverfassung – breitet ihre Flügel aus.
Wie lässt sich die Natur als heilsamer Raum auch im therapeutischen Kontext nutzen? Es braucht nicht viel. Wenn es gelingt, dass sich die Klienten (immer m/w) auf die Natur einlassen und in bewussten Kontakt gehen mit dem, was sie vorfinden.
Dies heißt vor allem, das ständige Gedankenfeuer zu dimmen und die Wahrnehmung vor den vergleichenden und ordnenden Verstand zu stellen. Das sollte vom Therapeuten gut angeleitet und die Nachbereitung für das Verstehen der Erlebnisse ebenso begleitet werden. Wenn Klienten sich öffnen können für die Natur und in Resonanz gehen mit den Pflanzen, den Tieren, den Steinen, dem Boden, dem Wetter mit Sonne, Wolken, Wind und Regen, werden meist ganz überraschende Erkenntnisse gewonnen, Erinnerungen wach und innere Botschaften empfangen.
Diese Öffnung wird spürbar, wenn wir unseren Sinnen vertrauen und ihnen nachgehen. Wir sind es üblicherweise gewohnt, uns zielgerichtet zu bewegen. Wir sind ausgerichtet auf den Berg dort, den Wanderweg da oder die Jausenstation hier. Offen zu sein für das, was die Natur uns zeigt, und in Kontakt gehen zu können, bedeutet, wir sollten soweit es möglich ist, den Geist, die Ratio – die Instanz, die alles verstehen, durchdenken und planen muss – ausschalten. Wir bewegen uns in der Natur wie Kinder, deren Aufmerksamkeit von einzelnen Gegebenheiten gefesselt ist und die wie Forscher neugierig ins Detail gehen und sich darin verlieren.
Das ist nicht ganz leicht, jedoch wenn wir mindestens zwei unserer Sinne aktivieren, z. B. Schmecken und Sehen, Riechen und Hören, mit der Haut spüren und auf unsere Körperaktivitäten achten, ist der Geist abgelenkt und wir sind nicht die ganze Zeit von unseren Gedanken gefesselt. Wir treten in Kommunikation mit der Natur. Diese Kommunikation ist nicht immer verbaler Art, sie kann sich in Gedanken, inneren Bildern, über Gefühle und Körperreaktionen ausdrücken. Und es sind dies die Momente, wo verschüttete oder lange Zeit nicht mehr spürbare Erlebnisse und Gefühle wieder in Erinnerung kommen, wo Dinge klar gesehen werden und Antworten auf Fragen kommen, die vielleicht noch gar nicht gestellt wurden. Die Natur wird uns ein Spiegel unserer eigenen inneren Welt mit all ihrer Weisheit und Klarheit.
Essenziell für solch eine Naturbegegnung ist es, hierbei alleine zu sein, nichts zu essen und sich der Natur auszusetzen. Das bedeutet, wirklich draußen zu sein und nicht das Auto oder ein Haus aufzusuchen. Allein zu sein heißt, menschliche Gesellschaft zu meiden. Zu groß ist die Verlockung, sich innerlich mit der Begleitung zu beschäftigen und nicht mehr offen zu sein für das, was einem begegnet.
Genauso sollte nichts gegessen werden auf diesem Gang in der Natur. Wie oft lenken wir uns mit essen ab und sind beschäftigt mit Einkaufen, dem Zubereiten und dem Essen selbst. Im Verzicht darauf geben wir der Seele die Gelegenheit, auf den Themen zu kauen, die uns im Inneren beschäftigen, und diese zu verdauen. Dabei Wasser zu trinken, ist gut und empfohlen. Wo und wie ich mich bewege, ist nicht vorgegeben; ob ich mich auf eine Wiese lege und dem Bedürfnis nach Schlaf nachkomme, ob ich meinem Impuls folge, zu gehen, oder mich von meiner Intuition in das Unterholz und Dickicht leiten lasse, ist gleich.
Das Wichtige ist, mir von meiner Seele die Pfade zeigen zu lassen und ihnen nachzugehen. Empfehlenswert ist es, am Beginn der Naturbegegnung und am Ende eine Schwelle zu bereiten und diese bewusst zu überschreiten. Eine Schwelle, die aus einem gelegten Stecken, einer Wurzel, einer Blume oder zwischen zwei Bäumen besteht, markiert den Anfang und den Schluss der Reise in den Spiegel der Seelenlandschaft, in der alles, was mir begegnet, Bedeutung hat, und ich mich mit einer anderen Aufmerksamkeit bewege.
Hinter der Schwelle versuche ich mit einem unfokussierten Blick, die Dinge aufzunehmen, die mir begegnen, und ich gehe langsamer und bewusster als sonst. Es hetzt mich nichts und es ist ganz alleine meine Zeit und ich muss gegenüber niemandem Rechenschaft darüber ablegen, was ich mit meiner Zeit anfange.
Als therapeutischer Begleiter ist es ratsam, im Vorhinein mit den Klienten zu klären, welches Thema für diese Naturbegegnung wirklich relevant ist, und dies in eine Frage zu gießen. Diese Frage sollte offen formuliert sein. Eine Ja-oder-NeinFrage, eine Schwarz-oder-Weiß-Frage lässt all den Zwischenlösungen und dem Farbspektrum dazwischen keine Möglichkeit, zum Tragen zu kommen. In der Nachbereitung ist dafür zu sorgen, dass die Klienten ihre Erlebnisse in einem Rahmen erzählen können, der nicht gestört wird und in dem Bewertungen des Erzählten wegfallen. Alle Weisheit und Klarheit ist in dem Erlebten und es gibt kein Falsch oder Richtig. Es ist so, wie es ist, ohne etwas hinzufügen oder wegstreichen zu müssen.
Für die Klienten ist es hilfreich, wenn sie ihre Erzählungen gespiegelt bekommen in dem Sinne, dass das Gesagte nochmals wiedergegeben wird, auch unter der Berücksichtigung des Themas und der Frage, mit der die Klienten sich in die Natur begeben haben. Hierfür ist in der Begleitung etwas Übung hilfreich.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Mann (gut 30 Jahre alt) kommt in die Therapie und berichtet von seiner Selbstdiagnose, seine Kontaktstörung zu Frauen betreffend, obgleich er sehr deutlich den Wunsch nach Partnerschaft und Familiengründung spürt. Seit bald zehn Jahren scheitert jede Beziehung sehr schnell und er fühlt sich aufgrund seiner stetigen Gewichtszunahme selbst nicht mehr attraktiv. Nachdem er das Thema erörtert hat, kann er sich vorstellen, meinem Vorschlag zu folgen und sich mit dieser Thematik in die Natur zu begeben. Wir erarbeiten gemeinsam die Frage, die er mitnimmt, und er plant, sich mindestens zwei Stunden Zeit dafür zu nehmen. Die Frage lautet: Was hindert mich, eine Beziehung zu leben?
In der nächsten Sitzung erzählt er davon, wie er sich in einen für ihn unbekannten Wald begeben hat und er sich dort mit offenen Sinnen umhertreiben ließ. Er folgte dem Pfad, den Wildtiere getreten hatten, lief dem Flug des Eichelhähers hinterher und ruhte sich auf einer Lichtung aus, bis sein Blick an einem vom Sturm abgebrochenen Baum hängen blieb.
Nach einiger Zeit untersuchte er die Bruchstelle und es überkam ihn eine große Traurigkeit. Seine ehemalige Freundin von vor zehn Jahren kam ihm in den Sinn und all der Schmerz der Trennung, den er damals erlitten hatte und nicht zulassen konnte. Die Klarheit des Bildes von damals, dass dies seine Frau fürs Leben sei, die Mutter seiner zukünftigen Kinder und die Partnerin durch dick und dünn war mit einem Schlag durch das Ende der Beziehung zerstört. Die grenzenlose Liebe war plötzlich ohne Widerhall und der Schmerz in dieser Zeit zu übermächtig, als dass er ihn hätte spüren können. Er hatte ihn weggepackt in seine Speckfalten.
Nach weiteren drei Sitzungen, einigen Tränen und der Erkenntnis, dass seine damalige Freundin vieles von seinen Bedürfnissen nach Ganzheit abgedeckt hatte, erlangt der Klient neuerlich Selbstvertrauen und fühlt sich allmählich wieder bereit für einen Kontakt mit einer Frau. Seine ehemalige Freundin hatte ihm das gegeben, was ihm fehlte, um sich komplett zu fühlen, und doch hatte er sich in dieser Beziehung auch immer wieder klein und bedürftig gefühlt. Er erkennt, dass seine Freundin vieles von seinen Wünschen nach Zuwendung erfüllt hatte, die er als Kind von seiner Mutter vermisst hatte. Und doch konnte sie die Bedürftigkeit des kleinen Jungen nicht stillen. Er realisiert, dass er das Fehlende selbst ergänzen und die Lücken, um sich ganz zu fühlen, eigenhändig füllen kann. In einem selbst kreierten Ritual in der Natur kann er sich bei dieser Freundin für die gemeinsame Zeit und für das, was sie ihm gegeben hatte, bedanken und sie verabschieden.
Ein halbes Jahr später bekam ich eine E-Mail von ihm mit der Information, dass er eine Freundin gefunden hat, sie sich nach seinem Empfinden auf einer Ebene begegneten und planten, zusammenzuziehen.
Zu diesem öffnenden und heilsamen Zugang zu verschütteten Gefühlen, wie in dem Beispiel beschrieben, gibt es noch einen Effekt, der für die gesamte Seelenlage der Klienten von essenzieller Bedeutung sein kann: das Erleben von Verbindung, von eingebunden sein, von „nicht rausfallen können“ aus etwas Größerem, die spirituelle Komponente. Jeder von uns kennt das Gefühl des Glücks, der Berührung und der Ergriffenheit, die einen bei der Betrachtung eines Sonnuntergangs ereilt, das Aufsaugen der Stille beim Betrachten eines Spinnennetzes mit Tautropfen, das innere Sichweiten beim Wogen eines Getreidefeldes im Wind.
Das sind die Momente, in denen die Dualität aufgehoben ist, es keine Fragen zu den Alltäglichkeiten gibt und die Klarheit des Seins zutage tritt. Genau in diesen Momenten schöpfen wir Vertrauen in uns, in das Leben und die Welt. Und wir verbinden uns erneut mit unserer Natur. Denn auch wir sind Natur, genauso wie die Lebewesen um uns herum, wie der Baum, die Steine oder der Himmel, und wir verbinden uns wieder rück, mit dem, wo wir herkommen und wohin wir gehen. Es ist die Chance, uns nicht mehr getrennt zu fühlen und den Halt zu spüren, wenn wir eingebunden sind in den großen Lauf der Dinge.
Auch wenn es scheint, dass diese Momente immer nur von kurzer Dauer sind, können wir als Therapeuten und Lebensbegleiter Klienten zu einer Praxis ermutigen, immer wieder aufs Neue in diese Räume der Verbundenheit einzutreten und auf unseren Seelenruf zu lauschen. So erlauben wir uns, unser wahres Selbst zu spüren, und können ein tragendes Fundament für unsere Lebensgestaltung bilden.
Eberhard Otto
Heilpraktiker für Psychotherapie, Internal Family System-Coach, Visionssucheleiter, mit Praxis in München