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Es wäre wünschenwert, dass sich Coachs intensiver mit dem Unbewussten auseinandersetzen

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Der Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth und die erfahrene Coaching-Praktikerin Alica Ryba haben gemeinsam „das erste neurowissenschaftlich fundierte Grundlagenwerk für Coaching“ herausgebracht. Darin werfen sie einen differenzierten Blick auf verschiedene Veränderungsebenen und -strategien sowie auf die Wirksamkeit von Coaching-Interventionen. Sie beleuchten das Thema Coaching aus neurobiologischer und psychologischer Perspektive und schildern, mit welchen neurowissenschaftlich fundierten Methoden dies in der beratenden Praxis gelingen kann.

VFP-Autorin Ela Windels sprach mit den beiden Autoren über Mängel, Herausforderungen und Chancen des professionellen Coachings.

Frau Ryba, Herr Roth, Sie liefern ein umfangreiches Grundlagenwerk, angefangen mit der „Geschichte des Coachings“, einem Kurzüberblick diverser Coaching-Ansätze wie NLP oder die Transaktionsanalyse, außerdem beschreiben Sie die gängigen Psychotherapieverfahren inklusive ihrer Vor- und Nachteile sowie sämtliche psychische Störungsbilder. Und natürlich ist auch dem Gehirn und seinen Funktionen ein ausführliches Kapitel gewidmet. Schließlich gehen Sie noch auf die Motivationspsychologie, Bindungstheorien, Lerntheorien und Gedächtnistypen ein. Warum so ausführlich?

Zum einen deswegen, weil Coaching eine aus der Praxis heraus entstandene Dienstleistung ist, die aktuell vor der Herausforderung der Professionalisierung steht. Daher braucht es eine solide theoretische Grundlage für die Forschung und Praxis. Zum anderen sind bei vielen Akteuren die Kenntnisse zur Geschichte und zu wichtigen Theorien des Coachings recht dürftig, weil sie nicht ausreichend in den heutigen Weiterbildungen vermittelt werden und die Praktiker selbst sehr unterschiedliche Qualifizierungen mitbringen. Daher war es uns ein Anliegen, eine gemeinsame Basis anzubieten.

An wen richtet sich das Buch?

Im Kern an Coachs, psychologische Berater und Psychotherapeuten. Grundsätzlich kann aber jeder, der sich mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt, wertvolle Hinweise für sich und seine Arbeit mitnehmen.

Welche neuen, interessanten Erkenntnisse gibt es?

Zunächst einmal ist uns sehr deutlich geworden, dass Coaching und Psychotherapie einen großen Überschneidungsbereich haben, weil beide sich mit mehr oder weniger tief greifenden Themen auseinandersetzen, in denen das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen eine große Rolle spielen. Dies hört man in der Branche jedoch nicht allzu gerne, weil Coaching sich als Beratungsdienstleistung für gesunde Personen mit beruflichen Fragestellungen positioniert hat.

Wir regen an, verschiedene Problemarten und ihre Tiefe differenzierter zu betrachten, und bieten verschiedene Ansatzpunkte zur Lösung an. So wird es möglich, nicht mehr allgemein von „Veränderung“ oder „Entwicklung“ zu sprechen, sondern konkrete Aspekte voneinander zu unterscheiden und so auch im Coaching gezielter zu intervenieren.

Viele Coaching-Theoretiker lehnen sich an psychotherapeutischen Konzepten und Behandlungsmethoden an. Kann das funktionieren?

Da es in beiden Beratungsformaten um Persönlichkeitsentwicklung geht, macht es durchaus Sinn, dass Coaching sich an die langjährig entwickelten psychotherapeutischen Konzepte anlehnt. Zwei Einschränkungen gibt es dabei jedoch. Erstens: Coaching ist nicht gleich Psychotherapie. Somit geht es im Bereich Coaching auch darum, eigene Konzepte zu entwickeln und die spezifischen Erfordernisse dieses Beratungsformats zu würdigen. Zweitens: Auch die psychotherapeutischen Konzepte haben bestimmte Defizite in der wissenschaftlichen Fundierung. Eine unkritische Übernahme der Konzepte und Methoden ist somit nicht zu empfehlen.

Was empfehlen Sie?

Wir sprechen uns ganz klar für eine integrative Vorgehensweise aus, da jede Therapie- und Coachingschule Vor- und Nachteile hat. Diese sollte jedoch in ein kohärentes Coaching-Modell eingebettet sein. Die gegenwärtige Situation des Coachings ist nach Meinung vieler Theoretiker gekennzeichnet durch drei Merkmale:

  • eine große Heterogenität der Ansätze und Methoden
  • eine sehr geringe Zahl an Wirksamkeitsnachweisen
  • einen eklatanten Mangel an Konzepten und Theorie

Warum gibt es bisher so wenig solide theoretische Fundierung zu Coaching-Konzepten?

Das liegt daran, dass Coaching eine recht junge Form der Beratung ist. Die Entwicklung dessen, was wir heute unter Coaching verstehen, begann Anfang der 1980erJahre und durchlief verschiedene Phasen. Seit etwa 2002 setzte eine zunehmende Professionalisierung ein. Langsam beginnt sich nun auch eine Coaching-Forschung zu etablieren.

Ihr Buch ist ein Brückenschlag zwischen Coaching und Beratung auf der einen Seite und den Neurowissenschaften auf der anderen Seite. Welche Bedeutung hat die Neurowissenschaft für die Psychotherapie?

Schon der junge Freud hat versucht, seine im Entstehen begriffene Theorie auf eine neurobiologische Basis zu stellen, musste aber aufgrund des damaligen sehr geringen Kenntnisstands der Hirnforschung scheitern. Seine psychoanalytischen Nachfolger haben sich dann für eine ausschließlich geisteswissenschaftliche Ausrichtung ihrer Psychotherapiemodelle entschieden, ebenso wie die meisten anderen psychotherapeutischen Richtungen mit Ausnahme der Verhaltenstherapie, die stets einen engen Bezug zur biologisch-psychologischen Verhaltensforschung hatte. Heute wird jedoch von vielen Seiten und mit Recht die Psychotherapie mit der Forderung nach einer empirisch-wissenschaftlichen Fundierung konfrontiert, um zum Beispiel zukünftig Erfolg versprechende von unbrauchbaren Therapieformen zu unterscheiden. Dies können die „Psycho-Neurowissenschaften“ leisten.

Welche Rolle spielt das Gehirn bei Veränderungsprozessen?

Unterschiedliche Verfahren bewirken, wenn sie erfolgreich sind, Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Dabei lassen sich Veränderungen, die auf bewussten, verbal-kommunikativen Verfahren beruhen, von solchen, die nonverbal-kommunikativ und intuitiv wirken, und schließ- lich von solchen, die nur „prozedural“ über ein Einüben neuer Weisen des Fühlens, Denkens und Handels geschehen, unterscheiden. Die ersten Veränderungen vollziehen sich in der bewussten kognitiv-sprachlichen Großhirnrinde und sind am wenigsten langfristig wirksam, die zweiten finden in der bewussten limbischen Großhirnrinde statt und sind wirksamer, und die dritten finden in unbewussten limbischen Gehirngebieten außerhalb der Großhirnrinde statt. Diese sind langfristig am wirksamsten.

Was heißt das für den Coach?

Wichtig ist, dass auch ein Coach sich klar macht, dass das limbische System als „Sitz“ von Psyche und Persönlichkeit einen viel größeren Einfluss auf das Erleben und Verhalten eines Menschen hat als unser Verstand, welcher in der überwiegend kognitiven Großhirnrinde lokalisiert ist. Da Menschen sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen dementsprechend nur wenig durch Einsicht verändern, sollte die Rolle der Selbst- und Problemreflexion im Coaching auch kritischer als bisher betrachtet werden.

Sie schreiben: „Aus Sicht des Gehirns muss es immer einen triftigen Grund geben, weshalb es sich und die Gewohnheiten ändern soll, und dieser Grund liegt in der Belohnung, die in letzter Instanz immer mit einer Zufuhr von stoffwechselförderlichen Mitteln einhergeht.“ Was meinen Sie damit?

Das Verändern von Gewohnheiten ist als neuronaler Reorganisationsprozess für das Gehirn ein komplizierter und insbesondere stoffwechselphysiologisch teurer und riskanter Prozess. Dieser findet nur statt, wenn er die Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt, also die Suche nach Nähe, Beziehung, Objektbindung, Autonomie und Identität – die Harmonie zwischen unbewussten und bewussten Motiven.

Nach Auffassung der Neurowissenschaften hängt die Persönlichkeit eines Menschen unauflöslich mit den Eigenschaften seines Gehirns zusammen. Bin ich mein Gehirn?

Ich kann nicht mein Gehirn sein, sondern das Gehirn bringt mich als eine bewusste Instanz hervor. Hierzu ist die Interaktion zwischen Genen, epigenetischen Kontrollmechanismen und vorgeburtlichen sowie nachgeburtlichen Umwelteinflüssen notwendig, die sich insgesamt im Gehirn manifestieren. Die neurowissenschaftliche Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte hat gezeigt, dass das Gehirn sehr viel plastischer ist als je angenommen. Kurz: Vorund nachgeburtliche Umwelteinflüsse ver- ändern massiv Gehirnstrukturen und -funktionen. Täten sie dies nicht, wären Erziehung, Coaching und Psychotherapie wirkungslos.

In Kapitel 6 beschreiben Sie die unterschiedlichen Einstellungen der psychotherapeutischen Richtungen zur Beziehung zwischen dem Unbewussten, dem Vorbewussten und dem Bewussten. Was bedeuten die Beziehungen für das Coaching?

Coaching stützt sich vor allem auf die therapeutischen Ansätze der zweiten Generation, die nach der Psychoanalyse entwickelt wurden, wie zum Beispiel die Verhaltenstherapie. Die Verhaltenstherapie misst dem Unbewussten kaum Bedeutung bei; es geht, ähnlich wie im Coaching, meist um Ergebnis- und Lösungsorientierung. Aber auch Coachs müssen sich klarmachen, dass aus neurowissenschaftlicher Sicht das Unbewusste das Bewusstsein stärker bestimmt als umgekehrt. Es wäre wünschenswert, dass sie beginnen, sich mit dem Unbewussten intensiver auseinanderzusetzen.

Coaching ist nach wie vor ein ungeschützter Begriff. Klingt, als braucht es endlich mehr Professionalisierung und Qualifizierung für diesen Beruf?

2017 01 Coachs3Unbedingt!

Roth, Gerhard/Ryba, Alica:
Coaching, Beratung und Gehirn.
Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte,
Klett-Cotta,
ISBN 978-3-608-94944-5

Ela WindelsInterview
Ela Windels
Sozialpsychologin, Journalistin, Kommunikationstrainerin, Autorin, Dozentin an der Paracelsus Schule Hannover
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