Die Bedeutung der Liebe in Beratung und Therapie – Teil 3: Die befreiende Wirkung der Vergebung
Nicht vergebene Verletzungen sind wie Gift für Körper, Geist und Seele. Erfreulicherweise gibt es ein wunderbares Entgiftungsmittel: die Vergebung! Ein sehr starker Ausdruck der Liebe ist die Vergebung!
Allerdings ist es für viele Menschen schwierig, Vergebung anzunehmen bzw. sich selbst und anderen zu vergeben. Deshalb bezeichne ich die Vergebung gerne als Königsdisziplin, als größte Herausforderung der Liebe.
Aussöhnung mit den Eltern
Damit es uns gut gelingt, Vergebung anzunehmen und zu schenken, ist es grundlegend, sich mit seiner eigenen Geschichte auszusöhnen. Das bringt nicht nur positive gesundheitliche Auswirkungen mit sich, sondern geht noch weiter: Wir lassen uns weniger verletzen und verletzen auch andere deutlich weniger.
Bei der Aussöhnung mit der eigenen Geschichte geht es vor allem um die Beziehung zur Mutter und zum Vater. Die ersten positiven und negativen Erfahrungen machen wir in der Beziehung zu unseren Eltern. Diese Erfahrungen haben Auswirkungen auf unser Leben, insbesondere auf die Beziehungen, die wir leben. Oftmals lassen sich Muster erkennen, die ihren Ursprung bereits in der frühen Kindheit haben.
Da es keine Eltern gibt, die perfekt sind, gibt es bei jedem Menschen viele mehr oder weniger große Belastungen und Verletzungen, die darauf warten, gelöst zu werden. Für diesen Befreiungs- und Lösungsprozess praktiziere ich die folgenden Schritte.
1. Alles Positive sammeln
Dabei ermutige ich die jeweilige Person, vom Moment der Empfängnis an alles zu sammeln, wofür es Grund zur Dankbarkeit gibt. Natürlich ist es nicht möglich, sich z. B. bewusst an das zu erinnern, was im Mutterleib geschehen ist. Doch einiges wissen wir von unseren Eltern und Verwandten. Außerdem können wir manches erahnen. Dabei geht es zuerst darum, das Positive ans Licht zu bringen. Manche Menschen brauchen hier eine gute Begleitung mit viel Einfühlungsvermögen und gezielten Fragen. Dadurch kann das Gute und Positive wieder zum Vorschein kommen, das oftmals vergessen und verschüttet wurde.
Bei anderen Menschen genügen wenige Impulse und sie können zu Hause in Ruhe das sammeln und aufschreiben, wofür sie dankbar sind. Eine gewisse Struktur kann dabei helfen, sich des Guten und Positiven bewusst zu werden und aufzuschreiben: jeweils ein paar Tage für die Empfängnis, für die Zeit im Mutterleib, für die Geburt, für das erste, zweite, dritte ... Lebensjahr. In gewissen Zeitabständen, z. B. an Sonntagen, lohnt es sich, innezuhalten und alles anzuschauen. Dadurch kann sich nach und nach eine wohltuende Dankbarkeit ausbreiten.
Wenn der jeweilige Elternteil noch lebt, bietet es sich danach an, seine Dankbarkeit direkt auszudrücken, z. B. durch Worte, einen Brief oder ein Geschenk. Wenn die Mutter und/oder der Vater verstorben ist, können andere stimmige Möglichkeiten gefunden werden, z. B. der Besuch des Grabes, an dem die Dankbarkeit mit Worten oder Zeichen (Blumen) zum Ausdruck gebracht wird. Dadurch ist eine gute Grundlage für den zweiten Schritt gegeben.
2. Belastungen und Verletzungen lösen
Hier gilt es zu erkennen, inwieweit es sinnvoll ist, dass die belastenden Erfahrungen zur Sprache kommen. Wenn die Person das erzählt, worunter sie gelitten hat und heute noch leidet, dann ist es gut und wichtig, vor allem diese Elemente einzubringen:
Gemeinsam zu ergründen, wie es sein kann, dass die Mutter/der Vater das Kind verletzt hat. Meist ist es möglich, zu erkennen, dass der jeweilige Elternteil selbst verletzt wurde. Dadurch entsteht Verständnis und es wird die Motivation zur Vergebung gesteigert, damit eine Weitergabe der Verletzung unterbunden wird. Bei näherer Betrachtung lässt sich erkennen, dass die Mutter/der Vater das Kind im Grunde geliebt hat.
Eine Unterscheidung von Person und Tat ist sehr hilfreich. Ich begleite die entsprechende Person dahingehend, dass sie zur Verletzung Nein sagt, jedoch zum jeweiligen Elternteil Ja sagt. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn die Person z. B. folgende Sätze bilden kann:
Ich finde das, was XY getan hat, nicht gut, XY ist jedoch weiterhin meine Mutter/ mein Vater.
Auch wenn XY Fehler gemacht hat, so ist XY als Person weiterhin wertvoll und liebenswert.
Unabhängig davon, inwieweit die Verletzungen angesprochen werden, sind Visualisierungsübungen sehr hilfreich, um Belastungen und Verletzungen zu lösen.
Nachdem die Person in einem guten Entspannungszustand ist, begleite ich sie so:
Kontakt aufnehmen zum inneren Zentrum voller Weisheit und Liebe.
Erkunden, inwieweit die Erlaubnis gegeben wird und der Wille da ist, bereits geschehene Verletzungen zu lösen.
Alle Belastungen und Verletzungen, die die Person in sich trägt, in Form von Steinen oder einem anderen stimmigen Symbol aus dem Inneren (dem eigenen Herzen) nach außen (auf einen Tisch oder auf den Boden) legen. Dabei ist es weder hilfreich noch wichtig, sich an die jeweiligen Verletzungen zu erinnern.
Die Steine beschreiben lassen (Form, Größe, Farbe usw.).
Auflösung bzw. Verwandlung der Steine: Dabei stelle ich Fragen wie:
– Was geschieht mit den Steinen, die jetzt vor Ihnen liegen?
– Was möchten Sie damit tun?
Ziel dieser Fragen ist es, dass die jeweilige Person visualisiert, dass sich die Steine entweder vollkommen auflösen oder sich in etwas Positives verwandeln.
Manchmal braucht es dazu etwas Unterstützung, z. B. durch die folgenden Fragen: Was könnte dabei helfen, dass sich die Steine auflösen oder verwandeln?
- Könnte ein starkes Licht helfen? Wenn ja: Wo kommt dieses Licht her?
- Wie ist dieses Licht?
- Was bewirkt dieses Licht in dem Moment, in dem es auf die Steine trifft?
Zum Abschluss der Übung kann noch eine Begegnung mit dem jeweiligen Elternteil visualisiert werden. Dazu stelle ich insbesondere folgende Fragen:
– Möchten Sie zum Abschluss dieser Übung Ihrer Mutter/Ihrem Vater begegnen?
Die meisten Personen sagen Ja und dann geht es etwa mit diesen Fragen weiter:
– Wie begegnet Ihnen Ihre Mutter/Ihr Vater?
– Wie begegnen Sie Ihrer Mutter/Ihrem Vater?
– Möchten Sie ihr/ihm etwas geben?
– Wie reagiert sie/er darauf?
– Welches Wort hilft Ihnen in der Beziehung zu Ihrer Mutter/Ihrem Vater?
– Wie wollen Sie sich von Ihrer Mutter/ Ihrem Vater verabschieden?
Wichtig ist, die Person so zu begleiten, dass sie den jeweiligen Elternteil liebevoll und wertschätzend sehen kann.
Falls die Person keine Begegnung mit dem Elternteil möchte, dann motiviere ich mit Fragen dazu, ihre Dankbarkeit für die Lösung bzw. Verwandlung auszudrücken.
Natürlich können wie bei allen Visualisierungsübungen auch weitere Elemente helfen, das Ziel zu erreichen, z. B. die Visualisierung eines inneren Helfers oder einer Landschaft bzw. eines Hauses, in dem sich die Person gut und sicher fühlt. Wichtig ist dabei, sich alles gut beschreiben zu lassen.
Diese Vergebungsarbeit ist eine Grundlage dafür, dass alle weiteren Verletzungen vergeben werden können. Das kann ähnlich geschehen wie mit dem Elternteil.
Sich selbst vergeben und Vergebung annehmen
Falls die Person selbst schuldig geworden ist und darunter leidet, ist es wichtig, dass sie sich selbst vergeben und Vergebung annehmen kann. Oftmals tun sich die Menschen besonders schwer, Vergebung anzunehmen, die sich selbst nicht vergeben können. Deshalb setze ich zuerst beim Sich-selbst-Vergeben an. Im Prinzip gilt hier das Gleiche wie bei der Aussöhnung mit den Eltern. Die Person kann das erzählen, was dienlich und sinnvoll ist. Ich steuere mit gezielten Fragen dahingehend, dass es zu einem tieferen Verständnis vor allem der Person durch sie selbst kommt. Auch hier setze ich gerne Visualisierungsübungen ein, bei denen die Person Worte, Symbole, Bilder und Szenen visualisiert, die zur Lösung führen. Hilfreich sind außerdem u. a. folgende Einstellungen:
– Kein Mensch ist perfekt, es ist menschlich, Fehler zu machen.
– Ich kann und will aus Fehlern lernen.
– Ich darf barmherzig mit mir selbst sein.
Gut ist, wenn die Person die für sie hilfreichen Einstellungen selbst entdeckt. Auch hier sind gezielte Fragen und Visualisierungsübungen hilfreich. Dies birgt eine große Kraft in sich, sodass sich gesunde Einstellungen entwickeln können.
Die Versöhnung mit sich selbst trägt entscheidend dazu bei, dass der folgende Dreischritt zur direkten Vergebung durch einen anderen Menschen gelingt.
1. Um Vergebung bitten
Dazu braucht es Mut. Neben professioneller Unterstützung können Freunde wesentlich dazu beitragen, dass die Person diesen mutigen Schritt geht.
2. Erfüllung der Vergebungsbitte
Damit dies erfolgt, gilt es, die Person dahingehend zu unterstützen, den anderen Menschen freizulassen, ob, wann und wie er Vergebung schenken kann und will.
3. Annahme der Vergebung
Hier ist es wichtig, die befreiende Wirkung auf Körper, Geist und Seele wahrzunehmen und dankbar zu sein. Die Person kann ein stimmiges Zeichen der Dankbarkeit setzen und die Versöhnung darf natürlich gefeiert werden.
Es gibt noch weitere Möglichkeiten, Vergebung geschenkt zu bekommen
Auch wenn der Mensch, an dem jemand schuldig geworden ist, bereits verstorben ist, kann die Vergebung noch erfolgen. Am besten geht das mit einer Visualisierungsübung. Hier kann die Person durch eine Geste oder ein Wort ihre Vergebungsbitte zum Ausdruck bringen und sie kann durch ein Wort, eine Geste oder ein Symbol Vergebung geschenkt bekommen.
Wenn jemand schuldig geworden ist, ist es durchaus hilfreich und sinnvoll, auch das Leben um Vergebung zu bitten. Wer an Gott glaubt, kann sich an dieser Stelle an Gott wenden. Bei Christen wird in diesem Zusammenhang die Beichte praktiziert, bei der die Person Vergebung zugesprochen bekommt.
Unabhängig davon, ob sich jemand an Gott oder an das Leben allgemein wendet, ist es gut, einen Moment zu finden, für seine Fehler um Vergebung zu bitten und die Vergebung geschenkt zu bekommen. Auch das ist mit einer Visualisierungsübung gut möglich. Ich begleite die Person dahingehend, dass sie all ihre Fehler und Versäumnisse abgibt und das Leben durch ein Wort oder eine Geste um Vergebung bittet. Wichtig ist auch hier, dass die Person die Vergebung wahrnimmt und annimmt. Oftmals visualisiert sie ein wunderbares Licht oder ein reinigendes Wasser. Wenn die Person wahrnimmt, wie das Licht sie durchdringt oder das Wasser sie reinigt, dann sind das sehr bewegende und heilsame Momente.
Ich bin gut!
Zum Abschluss möchte ich Ihnen weitergeben, wie ein afrikanischer Stamm mit Menschen umgeht, die schuldig geworden sind.
Wenn dort jemand etwas Verletzendes oder Falsches getan hat, nimmt ihn der ganze Stamm in die Mitte und erzählt ihm zwei Tage lang alles Gute, was er je getan hat. Sie glauben, dass jeder Mensch im Grunde gut ist und jeder von uns sich Sicherheit, Liebe, Frieden und Glück wünscht. Seine Missetat ist nur ein Hilferuf. Auf diese Weise verbinden sie ihn wieder mit seiner wahren Natur, sodass er sich erinnert, wer er wirklich ist. Nach und nach erkennt er die ganze Wahrheit, von der er sich vorübergehend getrennt hatte:
Ich bin gut!
Michael Leberle
Heilpraktiker für Psychotherapie, Coach und Kursleiter
Fotos: ©PheelingsMedia, goidamm10