Sektenopfer in der Therapie
Fragt man nach Sekten, so werden viele an Gewänder Tragende, im Kreis tanzende und singende Menschengruppen denken. An Gruppierungen, die abgeschottet von der Umwelt in ihrem eigenen merkwürdigen Mikrokosmos leben. Oder gar an Massensuizide, wie sie z. B. beim Jonestown-Massaker im November 1978 verübt wurden.
Inzwischen treten diese Gruppen jedoch unauffälliger und durchaus moderner in Erscheinung. Sie tragen Anzüge und feine Kleidung, bewegen sich nach Außen hin scheinbar angepasst an unsere Gesellschaft.
Sie geben sich freundlich, interessiert, mitfühlend und versprechen Seelenheil, mitunter bieten sie auch (sündhaft teure) Kurse zur Persönlichkeitsentwicklung an und haben auf jede Sinnfrage des Lebens eine Antwort parat.
Warum fallen Menschen auf Sekten herein?
Den Menschen war und ist es ein großes Bedürfnis, die Welt, in der sie leben, zu verstehen. Wissenschaft und Technik machen das zum Teil möglich, doch gleichzeitig für den „Durchschnittsmenschen“ noch undurchsichtiger. Je fortschrittlicher die Technik und Globalisierung mit all ihren komplexen Problemen und Lösungen, umso schwieriger wird es, das menschliche Grundbedürfnis nach Erklärungen zu befriedigen.
Durch Phänomene, wie ungewohnte Naturkatastrophen oder eben in Zeiten von Pandemien, wie wir derzeit eine erleben, werden neue Fragen aufgeworfen und das Bedürfnis nach Antworten wird noch verstärkt.
Das ist Nährboden für religiöse Gruppierungen, die auf jede Frage eine Antwort zu haben scheinen. Sie bieten Antworten, Lösungen und Hilfestellung.
Wer war in seinem Leben noch nicht auf Suche? Haben wir nicht alle unsere Krisen durchlebt? Bis hin zu schweren Lebenskrisen?
Auf genau diesen Personenkreis zielen die meisten Sekten mit ihren Lehren ab. Mit taktisch geschickter Gesprächsführung durch die im Bereich des NLP ausgebildeten „Werber“ werden Suchende angelockt und begeistert. Einmal in das System einer Sekte eingesaugt, besteht kaum eine Möglichkeit auf Ausbruch und Freiheit. Zum Schaden der Betroffenen, die diesen Konstrukten auf den Leim gehen, und zum Leid der Familien, die den Angehörigen plötzlich nicht mehr wiedererkennen. Persönlichkeit und soziales Verhalten haben sich grundlegend verändert.
Die Mitglieder einer Sekte fühlen sich elitär und auserwählt. Nur sie haben verstanden, alle anderen sind dem Untergang geweiht. Um sich davor sicher zu schützen, müssen die Kontakte zu Andersdenkenden und damit ggf. eben auch zu Angehörigen abgebrochen werden bzw. werden von der Führung der Organisation unterbunden. Kritiker werden als Helfer Satans angesehen. Satan ist keine Fiktion mehr, er ist real.
Warum ist der Ausbruch aus einer Sekte so schwierig?
In Sekten, religiösen Randgruppen und Kulten werden Gedanken, Verhalten und Gefühle kontrolliert und regelrecht neue Persönlichkeiten herangezüchtet. Im Volksmund spricht man von Gehirnwäsche, aber es steckt ein viel perfideres Kontrollsystem dahinter. Ein System der Beeinflussung, das noch tiefer sitzt und wirkt als bei einer Gehirnwäsche. Die Bewusstseinskontrolle!
Der amerikanische Sektenspezialist Steven Hassan beschreibt in seinem Buch „Freiheit des Geistes“ das Entstehen einer Sektenpersönlichkeit.
Er spricht von einer Bewusstseinskontrolle, dem Mind Control. Er beschreibt in seinem BITE-Modell die raffinierte Vorgehensweise, mit der eine zweite Persönlichkeit gezüchtet, gehegt und gepflegt wird, wobei die Ursprungspersönlichkeit nach und nach zur Seite gedrängt, zerbrochen wird und verkümmert. (BITE = Verhaltens-, Informations-, Gedanken- und Emotionskontrolle.)
Sekteneigenes Vokabular wird zur Indoktrination genutzt und in der Sprache der Mitglieder etabliert. Diese ganz eigene Sprache, die tief in den Betroffenen sitzt und wirkt und noch gehört und verstanden werden will, selbst wenn sie der Sekte bereits den Rücken gekehrt haben.
Besonders dramatisch wirkt sich Mind Control auf Personen aus, die von Geburt an in einer Sekte aufwachsen müssen. Sie lernen im Mikrokosmos der Gruppierung nie etwas anderes kennen und verinnerlichen deren Lehren als die absolute Wahrheit. Eine Lebenswahrheit.
Die Persönlichkeit der Betroffenen wird von Beginn an nach den Maßstäben der religiösen Gemeinschaft geformt und herangezüchtet. Das betrifft nahezu alle Bereiche des Lebens und greift tief in grundrechtlich verankerte Persönlichkeitsrechte.
Es wird nicht nur vorgeschrieben, wie gelebt, gedacht, gehandelt und gefühlt werden darf. Wird vom geforderten Verhalten abgewichen, drohen Strafe und Ächtung.
So wachsen Kinder mit psychischem/ seelischem Missbrauch und in völliger Überwachung auf, ohne Möglichkeit auf das Menschenrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung.
Ein Hinterfragen der Lehren ist weder erwünscht, noch werden konstruktives und eigenständiges Denken gefördert. Die Vorschriften und Forderungen der „Oberen“ sind klar und deutlich.
Zweifler haben es schwer auf ihrem Weg der Lossagung. Nicht nur damit, dass sie nun nicht mehr zu den „Auserwählten“ gehören und damit im Krieg Gottes sterben werden, müssen sie zurechtkommen. Ihnen drohen soziale Konsequenzen und der Verlust des kompletten Umfeldes, einschließlich der eigenen Familie. Ein hoher Preis, den es zu bezahlen gilt.
Sektenausstieg – was dann?
Manch einer schafft dennoch den Absprung. Gerade im Zeitalter des Internets sind Informationen leichter verfügbar als noch vor einigen Jahren. Aussteigerberichte zeigen immer wieder auf, dass aufklärende Artikel und Informationen zum „Erwachen“ von Betroffenen geführt haben.
Nach Verlassen einer Sekte, einer neureligiösen Randgruppierung oder eines Psychokultes sind Aussteiger haltlos und stürzen oft ins Bodenlose. Das über Jahre oder Jahrzehnte Erlernte und Verinnerlichte stellen sich als Lüge heraus und man fühlt sich betrogen. Betrogen um die eigene Kindheit, das Aufwachsen, die Jugend, um die eigene persönliche Entwicklung und um die Familie, die danach nichts mehr mit dem Aussteiger zu tun haben darf, um sich z. B. der satanischen Einflüsse zu entziehen. Familien brechen auseinander, Eltern verlieren ihre Kinder und andersherum. Zurück bleiben ein Scherbenhaufen und tiefe Verunsicherung, oft auch Scham.
Viele klagen nach ihrem Ausstieg über jahrelange Todesängste und Panikattacken, die sie aufgrund des „indoktrinierten“ religiösen Bestrafungssystems verfolgen.
Sektenopfer in der Therapie
Opfer von Sekten bzw. deren ehemalige Mitglieder (immer m/w/d) beklagen auf ihrem Weg der Aufarbeitung und bei der Suche nach geeigneten Psychotherapeuten immer wieder das mangelnde Verständnis ihrer ganz speziellen Situation. Zum einen werden der religiöse Aspekt und die psychologische Wirkung der Sektenarbeit „heruntergespielt“ und im Ergebnis belächelt, zum anderen fehlt das Verständnis für die spezielle „Sprache“ innerhalb dieser Gemeinschaften.
Sektenaussteiger sind oft in permanenter Todesangst aufgewachsen. Eine Angst, die tief in den Seelen und der Psyche der Betroffenen verankert ist.
Geschuldet einer jahrelangen Indoktrination, verbunden mit dem sektentypischen Kontrollsystem. Wer nicht in der Spur bleibt, wird das mit seinem Leben bezahlen in einem grausamen, blutigen, von Gott geführten Krieg.
Aussteiger stehen vor den großen Fragen:
- Wer bin ich wirklich?
- Wie war/ist meine Persönlichkeit angelegt?
- Darf ich wirklich „Ich“ sein, ohne anderen gefallen zu müssen? Ohne Bestrafung, vielleicht sogar mit dem Tode?
- Darf ich für mich einstehen und Grenzen setzen?
- Wie mache ich das?
- Kann ich nach dem Erlebten je wieder Vertrauen fassen?
Der Zugang zur eigenen Intuition ist oftmals verschüttet und tief unter alten Glaubenssätzen und Programmierungen verborgen.
Es gilt, diesen Zugang freizulegen und den Klienten darin zu bestärken, dass es ein/sein Menschenrecht ist, so zu sein, wie man in seiner ureigenen Persönlichkeit gedacht ist. Das gezüchtete SektenIch verkümmert und verschwindet dabei bestenfalls und die echte, wirkliche Person dahinter kann zum Vorschein kommen. Ein Prozess, der seine Zeit und viel Unterstützung braucht. Mit allem Respekt für die religiösen Aspekte, die für manche Aussteiger weiterhin eine Rolle spielen. Die Nöte von Sektenaussteigern in der Praxis sitzen tiefer, als sie an der Oberfläche sichtbar werden.
Immer wieder bekomme ich Anfragen von ehemaligen Sektenmitgliedern.
Das liegt sicher auch daran, dass ich selbst eine Sektenvergangenheit habe und die „Sprache“ der Betroffenen spreche und ihre Ängste kenne. Ich wünsche mir, dass dieses Thema mehr und deutlicher in das Bewusstsein der Öffentlichkeit kommt und die gefährlichen Mechanismen der Persönlichkeitsbeeinflussung durch Sekten wahrgenommen und nicht unterschätzt werden.
Auch wenn in Kreisen von Psychologen die Bewusstseinskontrolle kontrovers diskutiert wird, so gibt dieses Erklärungsmodell gute und verständliche Einblicke in die Tiefen ehemaliger Sektenpersönlichkeiten.
In der Hoffnung, dass noch mehr Kollegen verstehen, welch destruktive und zerstörerische Gewalt Sekten tatsächlich auf die Seelen der Menschen ausüben und diese oft selbst nach Jahren gefangen halten. Auf dass noch mehr Kollegen ihre Klienten gut abholen, verstehen und nachhaltig helfen können.
Ehemalige Sektenopfer zu verstehen, geht weit über die hier beschriebenen Punkte hinaus. Deshalb rate ich u. a. die Literatur des amerikanischen Psychologen und Sektenspezialisten Steven Hassan zu lesen – selbst ehemaliger Anhänger der Mun-Sekte. Er gibt Einblicke in die Konstrukte von Sekten und beschreibt Vorgehensweisen seiner Arbeit als Sektenausstiegsberater.
Esther Gebhard
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Hypnosetherapeutin, Sektenaussteigerin
Foto: ©raland