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Warum Vorurteile krank machen können: Interview mit Uwe Hambrock

Diplom-Psychologe Uwe Hambrock, Experte für Gesundheitsthemen. Er leitete die Grundlagenstudie zu Vorurteilen und Diskriminierung des Kölner rheingold instituts im Auftrag der IKK classic.

 DIE IKK CLASSIC ZEIGT HALTUNG
Mit einer breit angelegten, öffentlichkeitswirksamen Kampagne mit Start in diesem Sommer will die IKK classic deutlich machen, dass sie sich gegen jegliche Form der gesellschaftlichen Ausgrenzung wendet. Die Grundlage dafür bildet die Studie, die das auf tiefenpsychologische Marktforschung spezialisierte rheingold institut im Auftrag der IKK classic durchgeführt hat. Für die repräsentative Untersuchung wurden über 1 500 Personen befragt; darunter Menschen mit Migrationshintergrund, mit körperlichen Besonderheiten und LGBTQ, also lesbische, schwule, bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und queere Menschen. Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig – sie zeigen, dass Vorurteile und Diskriminierung krank machen.

Die Grundlagenstudie zu Vorurteilen und Diskriminierung hat das Kölner rheingold institut im Auftrag der IKK classic durchgeführt, das auf psychologische Markt-, Medien- und Kulturforschung spezialisiert ist. Wir sprechen mit DiplomPsychologe Uwe Hambrock, dem Leiter der Studie, über die zentralen Ergebnisse.

Herr Hambrock, Hand aufs Herz: Wann hatten Sie zuletzt ein Vorurteil?

So genau kann ich das gar nicht sagen. Vorurteilsgeprägte Gedanken und Gefühle entstehen in konkreten Situationen überwiegend automatisch und unbewusst. Das heißt, wir kriegen das in dem Moment selbst gar nicht so richtig mit. Menschen denken in bestimmten Kategorien und stecken Menschen erst mal in „Schubladen“, bevor sie sie genauer kennenlernen – da geht es mir nicht anders als allen anderen.

Was sagt die Forschungslage: Ist eine krank machende Wirkung von Vorurteilen belegt?

Bislang gab es nur wenige belastbare Studien hierzu. In internationalen Metaanalysen wurde zwar der Zusammenhang zwischen Betroffenheit durch Diskriminierung und Erkrankungen, hauptsächlich in Bezug auf Depressionen und Angststörungen sowie das Allgemeinbefinden, festgestellt. Aber für Deutschland gab es bisher kaum umfassende Grundlagenstudien.

Und welcher Zusammenhang zeigte sich in der aktuellen Studie mit psychischen wie körperlichen Erkrankungen?

Mit zunehmender Diskriminierungserfahrung leiden Menschen unter Schlafstörungen, Depressionen, Angststörungen und Burnout-Erkrankungen. Die Stärke des Effekts ist enorm: Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen treten bei stark diskriminierten Personen bis zu dreimal häufiger auf als bei denjenigen, die keine Diskriminierungserfahrungen gemacht haben.

Darüber hinaus konnten wir auch einen deutlichen Zusammenhang zu Magen-Darm-Erkrankungen und chronischen Kopfschmerzen feststellen. Hier spielt „Stress“ vermutlich eine moderierende Rolle; bei bestimmten Magen-Darm-Erkrankungen ist Stress als ein fördernder Faktor medizinisch belegt.

Wie viele Menschen sind denn von Diskriminierung betroffen?

In der repräsentativen Befragung haben 58 % angegeben, dass sie in den vergangenen fünf bis zehn Jahren von Vorurteilen und Diskriminierung betroffen waren. Und 13 % der Personen waren stark betroffen. Das ist sehr viel. Angesichts dieser Zahlen überrascht, dass das Bewusstsein über Vorurteile eher schwach ausgeprägt ist. Viele Menschen sind sich dessen nicht bewusst, dass sie auch selbst Vorurteile haben und andere Personen diskriminieren.

Konnten Sie in der Studie feststellen, dass Personen, die von Vorurteilen betroffen waren, selbst weniger Vorurteile haben?

Erstaunlicherweise zeigen betroffene Personen genauso viele, tendenziell sogar mehr Vorurteile als Nichtbetroffene. Betroffene reagieren zum Beispiel mit „Gegen-Vorurteilen“, also Vorurteilen über die „Täter“-Gruppe. In manchen Fällen führen auch die Diskriminierungserfahrungen zu Vorurteilen, zum Beispiel wenn man häufig von einer bestimmten Gruppe von Menschen Diskriminierungen erlebt hat. Dabei kommt es auch auf die soziale Gruppe an: Menschen mit Migrationshintergrund, die ja häufig von Vorurteilen betroffen sind, neigen selbst stärker zu Vorurteilen gegenüber Frauen und Menschen mit LGBTQ-Hintergrund. Bei Frauen und LGBTQ-Zugehörigen ist es andersherum: Diese neigen zu weniger Vorurteilen.

Was ist darüber hinaus erwähnenswert?

Auffällig war, dass vor allem sogenannte Mikroaggressionen – wie zum Beispiel Anstarren, Tuscheln oder verächtliche Blicke – unterschätzt werden. In unserer Studie berichteten Betroffene am häufigsten von diesen Mikroaggressionen. Insbesondere übergewichtige Personen sind diesen besonders häufig ausgesetzt. Die Betroffenen leiden sehr darunter. Die Täter wiederum unterschätzen die Wirkung und wissen oft nicht, wie sehr sie andere Leute mit ihrem Verhalten verletzen.

Welche konkreten Benachteiligungen erleben Personen mit Migrations-, LGBTQ-Hintergrund oder auch übergewichtige Personen?

Ungerechte, schlechtere Leistungsbewertungen oder Benachteiligungen bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche werden häufig von Betroffenen berichtet. Letzteres wurde auch durch Feldexperimente bestätigt. So wurde nachgewiesen, dass Menschen mit ausländisch klingenden Namen bei gleicher Qualifikation benachteiligt werden und weniger positives Feedback auf Bewerbungen erhalten, also zum Beispiel seltener zu Job-Interviews eingeladen werden. Ähnliche Tendenzen gibt es auch bei der Wohnungssuche.

Wie gehen Betroffene mit Vorurteilen um: Welche Ergebnisse liefert die Studie hier?

Leider kommen die langfristig eher unproduktiven Umgangsformen wie ignorieren, verdrängen, vermeiden und sich zurückziehen am häufigsten vor. Kurzfristig helfen diese Umgangsformen, weil man den unmittelbar schmerzhaften Situationen nicht mehr so sehr ausgesetzt ist. Langfristig führt das aber dazu, dass Ängste, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstzweifel schlecht überwunden werden und zum Beispiel Depressionen entstehen können. Durch Rückzug und Meidungsverhalten kann auch die Persönlichkeitsentwicklung leiden, insbesondere bei jungen Menschen.

Wie können Vorurteile abgebaut werden?

Persönlicher Kontakt ist das effektivste Mittel zum Abbau von Vorurteilen! Am besten hilft persönlicher Kontakt, wenn die Beteiligten von gleichem Status sind, gemeinsame Ziele verfolgen und ein informeller, freundschaftlicher Kontakt entsteht. Es reicht nicht, Tür an Tür zu leben – das ist zu wenig.

Welche Begegnungsplätze gibt es dafür konkret?

Der Arbeitsplatz ist eine wichtige Kontaktstelle. Teams mit hoher Diversität sind sehr hilfreich, denn hier muss man zwangsläufig Kontakt haben und idealerweise an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Was zudem hilft, sind Freizeitaktivitäten, die verbinden. Das können Sportgruppen sein, vor allem Mannschaftssportarten wie Fußball. Auch eine Theatergruppe, ein Chor oder ein Sprachkurs können gute Gelegenheiten für eine Kontaktbegegnung darstellen.

Wie wichtig ist der stellvertretende, mediale Kontakt?

Der mediale Kontakt, das heißt der Konsum von TV, Filmen, Serien, Werbung und so weiter, trägt auf jeden Fall auch zum Abbau von Vorurteilen bei. Das mediale Kennenlernen führt dazu, dass man merkt: Die anderen sind doch nicht so anders, man muss keine Angst vor ihnen haben. Was besonders gut hilft, ist die mediale Darstellung von Freundschaften zwischen verschiedenen Gruppen.

Für die US-amerikanische Sitcom Will & Grace, in der ein schwuler Anwalt und eine heterosexuelle Designerin zusammenwohnen, gibt es empirische Belege, dass sie tatsächlich Vorurteile reduzierte. Auch für Werbung gilt: Setzen bekannte und geliebte Marken in ihren Kampagnen auf Diversität, wirkt sich dies vorteilhaft auf die Akzeptanz von ethnischer oder sexueller Vielfalt aus.

Welche konkreten Tipps haben Sie für Betroffene?

Eine Möglichkeit, als Betroffener Vorurteile und Diskriminierung zu überwinden, ist, sich Unterstützung zu suchen. Beistand findet man im Freundeskreis, in der Familie oder auch durch professionelle Hilfe. Eine andere Möglichkeit ist, Täter zur Rede zu stellen und sich aktiv zu wehren – das kommt natürlich sehr auf die Situation an: Ist das überhaupt möglich oder doch zu gefährlich? Auch die Arbeit an den eigenen Selbstbehauptungsstrategien und am eigenen Selbstwert kann helfen. Also indem man versucht, Tätigkeitsfelder zu finden, in denen man sich selbst beweisen kann und Erfolge erzielt. Ein sehr gutes Mittel, das wir auch in der Studie gesehen haben, ist Sport. Selbstverteidigungskurse zum Beispiel bringen mehreres: Erfolge, einen positiven Selbstwert und das Gefühl, dass man sich im Notfall auch verteidigen kann.

Das Interview führte Felix Fischaleck, Redakteur bei der Agentur C3 Creative Code and Content GmbH, im Auftrag der IKK classic.

Nachdruck des Interviews mit freundlicher Genehmigung der FP 0521 komplett app Page35 Image1

Mehr erfahren

Die komplette Studie zum kostenlosen Download, Videobeiträge und Porträts von Betroffenen, die sich gegen Vorurteile stark machen, finden Sie unter:
ikk-classic.de/vorurteile-machen-krank

HILFE FÜR BETROFFENE
Die Studie „Vorurteile und Diskriminierung machen krank“ zeigt: Die Auswirkungen für Betroffene können vielfältig sein. Genauso vielfältig sind die Möglichkeiten, was oder wer helfen kann. Ob Betroffene ein professionelles Beratungsgespräch suchen oder sich informieren wollen, wie sie mit Personen ins Gespräch kommen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben: Die IKK classic unterstützt sie dabei. Auf den Themenseiten zur Studie „Vorurteile und Diskriminierung machen krank“ finden Betroffene die richtigen Anlaufstellen, falls sie Unterstützung suchen oder mit Menschen reden möchten, die ihre Erfahrungen teilen. Mithilfe der Arztsuche ist es einfach, Psychotherapeutinnen oder -therapeuten in der Nähe zu finden. Außerdem unterstützt die IKK classic die Arbeit von Selbsthilfegruppen. Wer regelmäßig sportliche Erfolgserlebnisse feiern oder seine Resilienz stärken möchte, findet unter „Gesundheitskursen“ den passenden Einstieg.  

 Foto: ©Jurga_Graf/www.photo-graf.de