Von der Steinzeit ins Internet: Interview mit Prof. Dr. Lutz Jäncke
Das Internet hat die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung revolutioniert. Über die sozialen Medien können wir die Welt teilhaben lassen, wenn wir vor dem Petersdom in Rom stehen oder im polnisch-russischen Grenzgebiet Wölfe beobachten. 150 000 Jahre Evolutionsgeschichte haben den Menschen zum rationalen, vernunftbegabten Wesen gemacht, zur Krone der Schöpfung, Herr seiner selbst und Entscheidungen kühl abwägend – oder?
Der Neuropsychologe und Hirnforscher Professor Dr. Lutz Jäncke, mit Lehrstuhl am Institut für Psychologie der Universität Zürich, ist da skeptisch. In seinem neuen Buch „Von der Steinzeit ins Internet“ mahnt er einen kritischen Umgang mit den neuen Medien an: Der Mensch sei von seiner evolutionären Entwicklung her nicht auf solche Informationsmassen ausgerichtet, wie sie das Internet bietet.
„Wir sind total schlechte Multitasker“, sagt der Autor im Gespräch mit dem VFP. In der titelgebenden Steinzeit war es für den frühen Menschen entschieden hilfreicher, den Höhlenbären, der 30 Schritte vor ihm aus dem Unterholz kam, genau im Blick zu behalten, als zusätzlich noch auf Blumen, ihre Farben, Vögel und Geräusche um sich herum zu achten. Alles andere wurde ausgeblendet; der Mensch war völlig fokussiert auf ein Thema – den Bären.
Heute werden wir dank des Internets mit Informationen geflutet. Damit ist unser Gehirn überfordert; es kann nur einen Bruchteil der Infos aufnehmen. Professor Jäncke: „Wir konzentrieren uns auf das, was hervorsticht, auf Headlines, Skandale, Gefährdungen. Wir gucken aber nicht mehr aufs Detail. Wir springen von einer Headline zur nächsten.“
Das hat, so der Autor, unter anderem zwei Folgen: „Der Bullshit im Internet hat exponentiell zugenommen.“ Zu jedem Thema lassen sich – bewusst oder aufgrund mangelnder Informationen – falsche Behauptungen verbreiten; oft genug in reißerischer Aufmachung. Zwar habe auch die Menge an richtigen Informationen zugenommen, die aber nur linear.
Das überrascht den Hirnforscher nicht: „Wie soll sich in einem solchen Umfeld und angesichts unserer Art der Informationswahrnehmung und -verarbeitung Sinnvolles und Faktenorientiertes durchsetzen?“
Zweite Folge: „Wir missverstehen uns ständig.“ Auch hier schlägt der Hirnforscher die evolutionäre Brücke in die Vergangenheit: Der Mensch sei für die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht „gemacht“. Mimik, Gestik und Tonfall sind wichtig für eine möglichst reibungslose Sender-Empfänger-Beziehung. Das klappt schon unter Idealbedingungen längst nicht immer, wird aber ohne Blickkontakt und mit abgekürzten Rumpf-Botschaften via WhatsApp ausgesprochen schwierig.
Professor Jäncke rät nicht zur InternetAbstinenz. Wohl aber zu einem selbstbestimmten und selbstdisziplinierteren Umgang damit. Er empfiehlt seinen Lesern, verstärkt den eigenen kritischen Geist zu nutzen: nicht unbesehen jeder Information Glauben schenken, sich aus verschiedenen Quellen informieren – eben kritisch bleiben.
Daran, ob uns das gelingt, hängt nach seiner Überzeugung mehr als „nur“ das persönliche Wohlbefinden. „Das Internet hat uns schon verändert und wird uns noch stärker verändern“, ist Professor Jäncke überzeugt. „Die Menschheit wird noch hedonistischer werden.“ Alles, selbst die abgründigsten Vorlieben des Menschen, seien im Internet jederzeit und überall zu finden.
Der Überfluss an lustspendenden Reizen sei insbesondere für junge Menschen gefährlich, warnt der Hirnforscher: Jene Regionen des Gehirns, die der Entstehung von Süchen aktiv entgegenwirken können, seien bei Kindern und Jugendlichen noch nicht voll ausgereift. Das macht junge Menschen anfälliger für Süchte jeder Art – eben auch solche in Verbindung mit Internet und social media.
Und: Das Internet wirkt nicht nur wie ein Katalysator für die Verbreitung des schon erwähnten „Bullshits“, mit seiner Hilfe lassen sich auch Bevölkerungsgruppen und ganze Nationen in wenigen Tagen in helle Empörung versetzen. „Die Verstärkungsfaktoren für Ideen, Parolen oder Meinungen sind viel, viel größer als ohne Internet“, sagt Dr. Jäncke und verweist auf die BrexitEntscheidung der Briten oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die ohne Meinungsmache mittels Internet wohl anders ausgegangen wären.
Professor Jäncke warnt davor, sich als Mensch zu viel auf die eigene Vernunftbegabung einzubilden. Unvernünftiges Handeln sei an der Tagesordnung. Und was wir uns im Zusammenhang mit dem Internet gefallen lassen – Datenspeicherung und Komplett-Analysen des Einzelnen, von persönlichen Vorlieben über die Erfassung von Gesprächspartnern bis hin zu Bewegungsprofilen – sei „grotesk“ und vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen.
„Jeder Einzelne muss sich fragen, in was für einer Welt er oder sie leben will“, meint der Neuropsychologe. Langsam und unmerklich hätten sich unsere Art zu kommunizieren, der Medienkonsum und die Nutzung von Informationen dramatisch verändert. Professor Jäncke will das Rad nicht zurückdrehen. In seinem unterhaltsam geschriebenen und auch für Laien gut verständlichen Buch erklärt er aus evolutionärer Sicht, wie der Mensch wurde, was er ist, und wo seine Grenzen liegen.
Lutz Jäncke mahnt eine selbstbestimmte und disziplinierte Nutzung von Internet und Neuen Medien an – zumindest, wenn man Herr im eigenen Kopf bleiben will.
Prof. Dr. Lutz Jäncke:
Von der Steinzeit ins Internet.
Der analoge Mensch in der digitalen Welt.
Verlag hogrefe
Prof. Dr. Lutz Jäncke
Neuropsychologe und Hirnforscher
mit Lehrstuhl am Institut
für Psychologie der Universität Zürich
Interviewer Jens Heckmann
Mitglied im Serviceteam des VFP e. V.