Homo empathicus
Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, einzufühlen und die Welt mit den Augen des anderen zu sehen. Diese Fähigkeit sollte Kernkompetenz von Therapeuten, Beratern und Coachs sein. Doch wie entsteht Empathie? Ist sie angeboren oder kann man sie erlernen?
Das Unwort des Jahres 2015 lautet Gutmensch. Die Sprachjury kritisiert mit dieser Wahl die Häme, die Helfer von Flüchtlingen ertragen müssen, und greift gleichzeitig einen Aspekt in der aktuellen Flüchtlingsdebatte auf. Denn mit der Vielzahl der Ankommenden hat sich eine ungeahnte Hilfsbereitschaft in Deutschland ausgebreitet. Der Strom geflüchteter Menschen aus Syrien, Albanien, Afghanistan und anderen Kriegs- und Krisengebieten wurde im Sommer 2015 zunächst mit großer Einfühlsamkeit aufgenommen und unterstützt. Auch Attentate und Übergriffe wie in die Paris oder Köln hielten nicht davon ab, dass eine Welle der Empathie durch das Land schwappte.
Das war nicht immer selbstverständlich. Digitalisierung und Globalisierung brachten in den vergangenen Jahren eher Einzelkämpfer als Gutmenschen hervor. Kein Wunder. Zeiten, die von Eile, Hektik und Konkurrenzdruck geprägt sind, verhindern naturgemäß das menschliche Miteinander. Stress hemmt Einfühlungsvermögen. Wer kaum Zeit für sich selbst hat, nimmt sich erst recht keine Zeit für andere.
Heutzutage ist es nicht minder stressig, gleichzeitig scheinen Raum und Bedeutung von Mitgefühl zu wachsen. Alleine im deutschsprachigen Raum gibt es pro Monat rund 130 000 Suchanfragen in Google zum Wort „Empathie”. Auf der Plattform Amazon findet man Bücher wie „Die empathische Gesellschaft“ oder „Das empathische Gehirn“.
Von der Wissenschaft kaum beachtet und als gesellschaftliches Phänomen ähnlich verpönt wie Telepathie oder Astrologie, wurde die Fähigkeit der Empathie lange Zeit wenig ernst genommen. Dabei gehört sie zu unserem evolutionären Erbe. Sie ist kein Luxus, sondern bringt viele Vorteile mit sich. Mit anderen im Gleichklang sein, Handlungen aufeinander abstimmen, Konflikte reduzieren, Kooperationen eingehen – Empathie ist unverzichtbar für ein respektvolles Miteinander.
Wer Anteil nimmt, sich gestützt fühlt und Nähe empfindet, der lebt länger. Wissenschaftler sind sich darüber hinaus einig, dass Empathie und Nähe Kreativität und Leistungsvermögen steigern. Mangelnde Empathie hingegen bildet den Nährboden für Konflikte, Burnout, Mobbing oder Rassismus.
Einfühlen – ein recht junger philosophisch-psychologischer Begriff, der 1913 durch den Aufsatz „Die Einfühlung“ des deutschen Ästhetikers Theodor Lipps eingeführt wurde. Seine These: Wenn wir andere Menschen in einem Kunstwerk abgebildet sehen, projizieren wir uns in dieses andere Leben und erleben Einfühlung. Anders ausgedrückt: Malerei, Fotografie, Literatur, Film oder Musik – Kunst ist immer ein Spiegel unserer Gefühle und Gedanken. Sie wirkt wie ein Resonanzkörper. Am Kunstwerk erfahren wir ebenso wie am Gegenüber mehr über uns. Der Philosoph Martin Buber brachte den Gedanken in seinem Werk „Ich und Du“ von 1923 auf den Punkt:
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Empathie unterscheidet sich von Gefühlsansteckung, indem Gefühle zwar nachempfunden, aber nicht als die eigenen übernommen werden: Ich empfinde deinen Schmerz nach, weiß jedoch, dass es sich nur um eine Reflexion deines Schmerzes handelt.
Mitfühlen ist also unter keinen Umständen gleichzusetzen mit mitleiden. Empathie heißt, sich auf Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person einzustimmen, mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten, sich zu verbinden und wahrzunehmen, was im anderen vorgeht. Und zwar ohne zu bewerten. Das nicht wertende Verstehen ist vielleicht die größte Herausforderung.
„Großer Geist, bewahre mich davor,
über einen Menschen zu urteilen,
ehe ich nicht eine Meile in seinen
Mokassins gegangen bin.“
Nordamerikanisches Sprichwort
Die biologische Voraussetzung für Empathiefähigkeit sind die Spiegelneuronen, die der Forscher Giacomo Rizzolatti und sein Team Anfang der 1990er-Jahre im italienischen Parma bei Makaken-Affen entdeckten. Die Wissenschaftler wiesen nach, dass beim Betrachten von Vorgängen das gleiche Aktivitätsmuster im Gehirn aktiv wird wie bei dessen Ausführung. Dazu wurden die Hirnströme von Affen gemessen. Einmal in dem Moment, in dem sie eine Erdnuss finden und verspeisen, und einmal in dem sie nur durch eine Glasscheibe beobachten, wie ein Artgenosse dies tut.
Erst 2010 gab es den direkten Nachweis beim Menschen. Der Motorcortex, eine Hirnregion, die für das Ausführen von Bewegung zuständig ist, wurde aktiv, wenn Bewegungen nur beobachtet wurden – ganz so, als würde der Beobachter diese selbst ausführen. Das war der Beweis: Mitfühlen ist fest im Gehirn verankert.
„Freude an der Freude und Leid am Leid
des anderen, das sind die besten Führer
der Menschen.“ Albert Einstein
Unser Gehirn übersetzt das Beobachtete direkt in eine Assoziation, die mit unserem eigenen Erleben zu tun hat. Wenn bei James Bond einem Gegenspieler ein Finger umgebogen wird, bis die Haut in der Handinnenfl äche weiß anläuft, und die Kamera das schmerzverzerrte Gesicht in Nahaufnahme zeigt, dann kann man als Zuschauer den Schmerz mitfühlen. Ebenso wie Schmerz ansteckt, steckt auch Lachen an. Ein Baby strahlt zurück, sobald man es anlächelt. Hierbei handelt es sich zunächst um eine Art Uranteilnahme, die „Gefühlsansteckung“.
Durch sozial erworbene Fähigkeiten wird Mitgefühl schließlich in immer komplexer werdenden Schichten angelegt – von der Anteilnahme bis hin zum vollständig entwickelten Mitgefühl.
Kinder brauchen dazu zunächst Eltern, die sich auf die innere Welt des Nachwuchses einlassen und ihm gleichzeitig helfen, sich selbst und seine inneren Vorgänge zu verstehen. Kinder sollten angeleitet werden, sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen. Ein gemeinsames Nachdenken über die Auswirkungen von Handlungen kann das Einfühlungsvermögen ebenfalls steigern. Ob vollständige Empathie heranreifen kann, hängt neben Kindheitserlebnissen, dem Umgang der Eltern mit den Emotionen ihrer Kinder sowie den kognitiven Fähigkeiten auch mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld zusammen.
Empathie ist unser Job
Ohne Einfühlungsvermögen geht es im therapeutischen Setting nicht. In der Humanistischen Psychologie bildet eine mitfühlende und wertschätzende Klienten- Therapeuten-Beziehung die Basis. Über den Zustand der Einfühlung oder des Sicheinfühlens gelingt es dem Therapeuten, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die dem Klienten das Gefühl vermittelt, wirklich verstanden zu werden. Im Konzept der klientenzentrierten Psychotherapie greift Carl Rogers, Hauptvertreter der Humanistischen Psychologie, den Grundgedanken Martins Bubers auf („Der Mensch wird am Du zum Ich“) und führt ihn fort. Er sieht den Therapeuten, ähnlich wie es zuvor auch Lipps in Bezug auf Kunst tat, als Resonanzkörper, der das innere Bezugssystem des Klienten genau und wertfrei wahrnimmt und spiegelt.
Das empathische Zuhören geht nur über den Blick nach innen; indem der Therapeut seinen eigenen inneren Befindlichkeiten, Gedanken und Gefühlen selbstempathisch lauscht, kann er erfassen, was draußen, also im Klienten, vor sich geht. Er fasst sein eigenes Erleben in Worte und bietet diese seinem Klienten an. In dieser Rückmeldung des vom Klienten ausgedrückten emotionalen Inhalts mit anderen Worten liegt die Besonderheit der Methode. Ziel ist es, über das empathische Zuhören den Klienten zunehmend an seine eigene Wahrnehmung (zurück-)zuführen.
Empathie: einfühlen in die Erlebniswelt des Gegenübers durch Selbstempathie/ Selbstreflexion
+ Akzeptanz: wertfrei wertschätzen, was der andere erlebt, denkt, fühlt
+ Authentizität: sei ehrlich, nicht nett
= Gesprächsbasis: positives Gesprächsklima im therapeutischen Setting
Dass ein hohes Maß an kognitiven Fähigkeiten wie Selbstempathie und Selbstreflexion zur Grundausstattung eines jeden Beraters, Coach und Therapeuten gehört, versteht sich von selbst. Ebenso wie man in diesen Berufen die Haltung mitbringen sollte, Klienten in ihrer Gesamtheit wertfrei anzunehmen. Für ein kontinuierliches Wachstum von Empathie gibt es hingegen zahlreiche Techniken, wie das Spiegeln, Paraphrasieren, Sprachmuster der Empathie oder Achtsamkeit.
Und das ist die gute Nachricht
Einfühlungsvermögen lässt sich üben. Das evolutionäre Erbe entwickelt sich weiter. Vielleicht ist das der Beginn einer neuen Empathie-Epoche? Die aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft scheinen sich jedenfalls nur mit dieser Kompetenz wirklich meistern zu lassen.
Literatur
- Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann Verlag
- Rogers, Carl R.: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Fischer Taschenbuch
- Bartens, Werner: Empathie. Droemer Verlag
Ela Windels
Sozialpsychologin, Journalistin, Kommunikationstrainerin, Autorin, Dozentin an der Paracelsus Schule Hannover