„Ich schenke Ihnen einen Lutscher!“
Es sind die kleinen Zwischenmenschlichkeiten, über die es sich lohnt, nachzudenken ... Einen Lutscher geschenkt zu bekommen, kann in der Realität Verschiedenes bedeuten. Es kommt auf die Realität an. Auf den, der gibt, und den, der nimmt.
Bei mir um die Ecke ist ein kleiner Bäckerladen, in dem noch traditionell gebacken wird. Wenn man die Tür öffnet, kommt einem der wohlige Geruch von frisch gebackener Teigware entgegen. Ein Glöckchen läutet als kleiner Willkommensgruß. Meistens werde ich von der Bäckersfrau mit einem gedehnten „Guten Morgen“ begrüßt. Man kennt sich. Es ist heimelig hier.
Na, wie stellen Sie sich jetzt diese Bäckerstube vor? Haben Sie ein inneres Bild vor Augen? Wenn nicht, dann sollten Sie sich noch ein wenig entspannen. Mmmmmmh. Waaaaaarm. Ein warmes, knuspriges Brötchen. Mit zart schmelzender Butter. Garniert mit ... Mmmm. Haben Sie jetzt auch so einen Hunger? Einen Moment, bitte ...
So. Zurück. Der Film kann weitergehen. Warum ich „Film“ sage? Weil Sie sich vielleicht einen ähnlichen Bäcker vorstellen, aber dann doch nicht genau diesen. Sie sitzen zwar gerade in meinem Kino, dennoch für sich im eigenen Film. Ihrem persönlichen „Lebensinhalt-Film“. Wo und wie lesen Sie gerade diese Zeilen? Das würde mich mal interessieren. Ich kann Ihnen für meinen Teil sagen, dass ich gerade ... warum sind hier überall Brötchenkrümel, ey?!
Ich finde es immer wieder interessant, mir vor Augen zu führen, dass jeder Mensch sich seine eigene Realität mit individuellem Empfinden kreiert, – dass uns die Kindheit prägt, die darauf aufbauende Entwicklung uns ausmacht und die Entscheidungen sowie die Sicht- und Verhaltensweise im Erwachsenensein mitbestimmt. Auch der beste „Freie Psychotherapeut“ ist nicht gefeit davor, manchmal voreingenommen zu sein oder nach empirischen Werten zu handeln, obwohl die Situation nicht die gleiche, sondern nur eine ähnliche ist. Wir sind daran gewöhnt einzuordnen – denn sonst wären wir orientierungslos. Umso mehr könnte man einander verstehen.
Deshalb eine Hausaufgabe für alle (mich eingeschlossen – für den Teamgeist und so!): sich bis zum nächsten Mal fokussiert einmal am Tag in seiner Verhaltensweise und Weltsicht hinterfragen und refletieren. Ne, anders: Wir haben ja gelernt. Aktives Formulieren: „Wir hinterfragen verstärkt und fokussiert in der kommenden Zeit unsere Verhaltensweise und Weltsicht, um bewusst durchs Leben zu gehen. Mit mehr Akzeptanz und Toleranz.“ Ach, machen Sie schon und immerzu? Dann für alle anderen ein paar Fragen, die ich mir schon so oder so ähnlich gestellt habe:
Warum handle ich, wie ich handle?
Warum habe ich mich so entschieden?
Warum ärgere ich mich über diesen Menschen? Liegt es an ihm oder hat es etwas mit mir zu tun?
Warum ärgere ich mich über mich selbst, obwohl ich frei entschieden habe oder entscheiden kann?
Warum kann ich keinen Kompromiss schließen mit dieser Person oder einer Situation?
Warum muss ich auf meinem Standpunkt beharren, obwohl jede Meinung zählt?
Warum kann ich nicht akzeptieren, dass er anders denkt?
Warum kann ich nicht Frieden damit schließen, dass es jetzt anders gelaufen ist?
Fragen, die man als „Freier Psychotherapeut“ auch Klienten stellt bzw. die sich Klienten stellen sollen.
Wir leben alle in einem System. Wir. Die Menschen. Aber eigentlich alles. Miteinander verbunden. Während Sie hier so einträchtig lesen – was passiert noch? Gerade leiden und sterben Menschen. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Ja, und jetzt?! Das ist wahrlich eine andere Realität. Und immer steht das Warum. Ich glaube daran, dass verstärkte menschliche Kommunikation miteinander und mit sich selbst, also jeder Mensch sich selbst hinterfragend, zu einem besseren Leben beitragen kann. Das wissen wir eigentlich alle intuitiv. Wir hören nur nicht hin, wenn wir wieder einmal nicht das bekommen, was wir wollen, oder mehr oder etwas anderes wollen oder nicht wollen. Da ist der eine persönlich beleidigt, weil der andere etwas gesagt hat, was er aber nicht so meinte. Falsch betont.
Ja. Kennen wir. Zwei Meinungen. Streit. Zwei Realitäten. Warum ich immer von Realitäten spreche? Manchmal muss uns jemand nur einen Stups oder Wink mit dem Zaunpfahl, einen kleinen Link zu einer Selbsterkenntnis geben oder mit einer Darstellung in seinen eigenen Worten unseren Blickwinkel auf die Sache nur um ein kleines Stück verrücken, damit wieder Licht ins Dunkle kommt, damit wir die Muster in unserem Leben erkennen und neue Bilder entstehen können.
Darüber reden hilft beim Sich-ein-Bild-Machen. Dem anderen bewusst machen, welche Bedürfnisse man hat, was man möchte und nicht möchte – wie man über eine Sache denkt oder wie sich etwas anfühlt. Was man (vom anderen) erwartet. Wie man sein Leben gestalten möchte und sich ausmalt. Zwischenmenschlichkeit. Kommunikation. Austausch. Schon das 4-Ohren-Modell hat auf einfache Art und Weise erklärt, dass wir Menschen immer vorgeprägt Nachrichten aufnehmen, verarbeiten und entsprechend reagieren. Manchmal weiß man trotzdem nicht, wie etwas von einer anderen Person gemeint ist und kann nur situationsbedingt und erfahrungsgemäß deuten, wie es zu verstehen sein könnte.
Kommen wir zurück zum Bäcker. Ab und zu ist der Bäcker, ein gut gebauter und Selbstsicherheit ausstrahlender Mann, persönlich vor Ort. Er räumt dann meist Kisten mit Backwaren umher oder schneidet Streuselkuchen und dergleichen, während seine Frau bedient. Er schaut dann flüchtig hoch. Wir begrüßen uns immer recht freundlich. Und neulich war er dann alleine da.
Ich kam rein. „Guten Morgen. Einen Kaffee zum Mitnehmen, bitte.“ Es kommt sehr häufig vor, dass ich nur einen Kaffee nehme. Der ist da so lecker. Der Bäcker sah mich an. Ich sah ihn an. Er lächelte. Ich lächelte zurück. Er drückte nicht auf den Knopf der Kaffeemaschine, sondern stand immer noch da. Er machte einen Schritt in meine Nähe. Er grinste: „Möchten Sie dazu denn nichts anderes?“ Ich sah ihm in die Augen. – Aha.
So manch einer unter Ihnen wird sich jetzt denken: „So, so ... was ist denn das für eine Anekdote?“ Es ist Ihre Fantasie. Nicht meine. – „Nein, danke.“ – „Kein Brötchen?“ – „Nein, kein Brötchen.“ – „Keine Kaugummis?“ – „Nein, auch keine Kaugummis.“ (Ich habe gelernt, Nein zu sagen. Aber im Alltag gibt es ja auch immer wieder gute Übungseinheiten.) „Auch keine Bonbons?“ – Ich übe mich in Geduld ...: „Nein auch keine Bonbons. Brauche ich nicht. Danke.“
Gib mir meinen Kaffee! Da drückte er endlich auf den Knopf, es surrte verheißungsvoll. Und was dann? Dann griff er mit Bedacht unter die Theke, streckte seinen Arm und ... hielt mir einen Lutscher entgegen. Erst sagte er nichts. Mein Belohnungssystem fand den Lutscher da ganz klasse. Aber wollte ich als erwachsene Frau einen Lutscher geschenkt bekommen? Ich kam mir für diese Art von Gabe irgendwie zu alt vor.
Nach einer Weile des Nichtssagens und Nichtreagierens folgte von ihm ein: „Für Sie.“ Ich hatte ja noch keinen Kaffee gehabt. Ich war ziemlich perplex. Nein, damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Hand griff nach dem orangen, runden Ding mit dem gelben Stiel und ich erwiderte: „Vielen Dank. Mir hat schon lange keiner einen Lutscher geschenkt.“ (Das erste, was mir in den Sinn gekommen war: „Meine Mama sagt, ich darf nichts Süßes von fremden Männern annehmen.“) Komische Situation irgendwie.
Kaffee geschnappt. „Ja, äh ... danke“, und husch, husch ins Körbchen. Äh ... ins Auto. Im Auto brauchte ich erst einmal einige Minuten Zeit, um mich gedanklich zu sortieren. Warum bekomme ich heute von dem einen Lolli geschenkt? Was ist denn da abgelaufen?
Abends ging ich mit einer Freundin spazieren und erzählte ihr die Geschichte. Recht objektiv, wie ich fand. Ihre Reaktion: „Was ist das denn für eine doofe Anmache! Nach dem Motto hier, was zum Lutschen für die Süße. Oder besser noch nach dem Motto: Lutsch den Lutscher, Baby, wenn du nichts anderes willst. Ja ja, wenn seine Frau nicht da ist ...“
Dann erzählte ich einem guten Freund davon: „Och, war bestimmt nur lieb gemeint, weil du nur den Kaffee wolltest.“
Eine Kollegin meinte: „Der wollte sich bestimmt nur bei Ihnen bedanken, weil Sie eine treue Kundin sind.“
Ein anderer Kollege stellte für seinen Teil fest: „Wahrscheinlich hat der gemerkt, dass du schon genervt warst, und wollte sich für die Wartezeit entschuldigen.“
Eine andere Freundin: „Vielleicht hast du ganz süß ausgesehen, dass er dir eine Freude machen wollte.“
Als ich in meiner Supervisionsgruppe auch noch davon anfing, gab einer zu bedenken: „Ist doch egal, was er damit meinte. Viel wichtiger ist, was du meinst.“
Was denken Sie? – Und nein, ich werde nicht den Bäcker persönlich danach fragen.
Ich habe mich dann dafür entschieden, die Sache als nette Geste abzuhaken. Sie sehen aber: Es hätte vieles bedeuten können. Ein geschenkter Lolli kann für so vieles stehen. Ist man denn für einen Lutscher je zu alt?
Wer legt denn fest, wann man für etwas zu alt ist? Ich habe mal gelesen, dass es für alles eine Zeit gibt und dass sich die Dinge so einstellen, wie sie für die Entwicklung wichtig sind, dass man praktisch auch wieder die Lust an Aufgaben, Tätigkeiten und Dingen verliert, wenn man zu alt oder zu schwach für etwas wird. Und das wäre nun mal für alle Menschen – je nach Vulnerabilität, Ressourcen und Faktoren – unterschiedlich.
Wir sind nur dann für etwas zu alt, wenn wir es selbst denken oder fühlen. Es liegt an uns, durch das eigene Leben zu gehen und jeden Tag mitzunehmen auf der Reise. Große und kleine Dinge einzustecken und aufzunehmen, zu bewerten und einzuordnen. Wie so einen kleinen Lolli. Oder eine Begegnung.
Jeder ist selbstständig im Denken, Fühlen und Handeln. Wie viele und was für Ressourcen hat man? Welche Faktoren bestimmen das Leben zu welchem Zeitpunkt? Und: Hinterfragt man nicht zu häufig die kleinen schönen Dinge der zwischenmenschlichen Kommunikation, weil man zu rational und angeblich „zu alt“ für Spontanes ist? Oder ist es das „natürliche“ Misstrauen? Lassen wir offene Kommunikation überhaupt noch zu? Was ist das für eine Entwicklung?
Der Mensch ist bewogen zur Entwicklung. Zur Entwicklung seiner selbst, von etwas und im ganz einfachen Sinne der Evolution. Heutzutage fehlt immer mehr Menschen die offene Kommunikation, sich mit jemandem über unklare Gedanken und Gefühle auszutauschen, um vielleicht dem natürlichen Bedürfnis nach Abgleich der eigenen Entwicklung und Realität mit einer anderen nahezukommen. Immer mehr Menschen wenden sich an Begleiter für die Seele. Gestärkt erwachsen sie und spüren, dass ein Umdenken und das Nachsinnen und Entwirren einen positiven Einfluss auf ihr ganzes Leben haben. Was viel an Kommunikation liegt. Sie haben ihre eigene Realität hinterfragt durch gezielte Fragen und geleitende Worte des z. B. Heilpraktikers für Psychotherapie oder des Psychologischen Beraters.
In jedem Lebensabschnitt gibt es spezielle Einfl ussfaktoren und Entwicklungsschritte. Also auch Fragen und Krisen sowie Chancen. Und für Chancen ist man niemals zu alt.
Ich habe gestern ein paar Lutscher gekauft. Die werde ich demnächst verteilen. Manchmal mit einem Wort. Manchmal stattdessen.
Ich schenke Ihnen Zwischenmenschlichkeit. Ich schenke Ihnen einen Lutscher!
Jenny Miosga
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Geprüfte Psychologische Beraterin, Journalistin, Rhetorik- und Kommunikationsexpertin