Interkulturelle Praxis-Kompetenz
Interkulturell kompetent ist ein Mensch dann, wenn er effektiv, der Situation angemessen und erfolgsorientiert mit Menschen anderer Kulturen umgehen kann. Je größer die kulturelle Distanz zwischen Menschen ist, desto größer und umfangreicher sind auch die Aufgaben zur Überbrückung dieser Distanz. Je größer die Erwartungshaltung an den jeweils anderen ist, desto größer ist im negativen Fall die Enttäuschung.
Der alte Spruch: „Kleine Ursache große Wirkung“ erfährt im interkulturellen Zusammenhang eine neue Bedeutung, wenn die missverständliche Interpretation kultureller Spielregeln einen Auftrag nicht zustande kommen lässt, Gruppenbildung in Betrieb und Praxis den Arbeitsablauf belastet oder Klientinnen/Klienten und Patientinnen/Patienten nicht verstanden werden, weil sie eine „andere Sprache“ sprechen.
Jeder Mensch ist geprägt von seinem dominanten Kulturumfeld und dem darin bestehenden komplexen Wertesystem. Er entwickelt bereits von Geburt an stetig entsprechende Muster des Denkens, Handelns, Wertens und Fühlens.
Interkulturelle Kompetenz ist deshalb eine auf Kenntnissen über kulturell unterschiedlich geprägte Regeln, Normen, Wertehaltungen und Symbole beruhende Form der fachlichen und sozialen Kompetenz.
Zahlen des Statistischen Bundesamts haben bereits für 2010 belegt, dass rund 20% der Bevölkerung Deutsche oder Ausländer mit Migrationshintergrund sind. Hinzu kommen Deutsche oder Ausländer ohne unmittelbaren Migrationshintergrund, die aber einen starken Bezug zu anderen als der deutschen Kultur haben, sowie Studierende und in diesem Jahr in hohem Maße Flüchtlinge aus völlig anderen Kulturkreisen. Können wir es uns also leisten bei einem Bevölkerungsanteil von mindestens 30%, der nicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden kann und dennoch in ihr lebt, diesen zu ignorieren?
Wir finden: nein! Im Gegenteil: Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, können doch noch besser als andere ihre Fähigkeiten ausdehnen auf das Erkennen von kulturellen Unterschieden, die Behandlung von Belastungszuständen, denen gerade Flüchtlinge ausgesetzt sind. Sie können Ressourcen und Gemeinsamkeiten entdecken, kulturelle Unterschiede überwinden – mit unmittelbarem Nutzen für die Arbeit mit Klientinnen/Klienten und Patientinnen/Patienten. Das ist ein Ziel unserer sich wandelnden Zeit. Das heißt nicht, eigene kulturelle Maßstäbe aufzugeben, im Gegenteil können diese sogar wieder stärker in den Mittelpunkt des Alltags rücken. Es heißt nur, kulturelle Unterschiede wahrzunehmen und adäquat, zielgerichtet und erfolgsorientiert mit ihnen umzugehen.
Kultur und kulturelle Identität
Es gibt einige Interpretationen des Begriffes Kultur. Man kann aber darunter ein Sinnsystem verstehen, das für eine bestimmte Gruppe von Menschen gültig ist und welches
- gemeinsames Wissen, gemeinsame Wertvorstellungen, Weltbilder, Deutungsmuster und Gewohnheiten einer Gruppe sowie
- daraus folgende Handlungsmuster und Verhaltensweisen beinhaltet, die zu
- der kulturellen Identität des Individuums bzw. einer sozialen Gruppe führen, die das Zugehörigkeitsgefühl zu einem definierten kulturellen Ganzen und die daraus resultierende Gegenüberstellung des „Eigenen“ zum „anderen“ im Gepäck führen.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Bewegungsströmen.
Diese haben natürlich Spuren hinterlassen. Im Zuge der Migrationen entwickelten sich ständig neue Ausprägungen kultureller Eigenschaften. Deshalb gibt es auch nicht die Kultur im Sinne von statischen, so schon immer da gewesenen kulturellen Gegebenheiten, wie sie durch erworbene Fähigkeiten, Wissen und Traditionen hervorgebracht werden. Es gibt lediglich immer wieder Zeiten, in denen kulturelle Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft in solch kleinen Schritten stattfinden, dass sie von den betroffenen Menschen in ihrem Leben gar nicht wahrgenommen werden.
Es gibt deshalb ein von der Mehrheit einer Gesellschaft in ihrem Erlebensabschnitt wahrgenommenes Gefüge, das sich identitätsstiftend darstellt. Es ist ein System, in dem man sich wiederfindet, das durch Traditionen, Sitten und Brauchtum sowie Regeln des Zusammenlebens Halt und Sicherheit gibt. Es handelt sich um die sog. kulturelle Identität.
Man weiß, wer man ist, wohin man gehört und was die soziale Gruppe zusammenhält. Man spricht dieselbe Sprache. Alle Gruppenmitglieder (er-)kennen sich und können sich in den anderen Mitgliedern spiegeln. Wenn diese Sicherheit bedroht wird, sei es auch nur aufgrund eines subjektiven Angstgefühls, einer persönlichen oder gemeinschaftlich empfundenen Unsicherheit, wird diese „eigene“ Kultur zum schützenswerten Gut; sie wird als besonders wertvoll empfunden, gelobt und gepriesen und muss verteidigt werden.
Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Menschen einer Gesellschaft, deren kulturelles System, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr oder noch nicht sehr stabil ist, sich schneller stärker bedroht sehen als jene mit einem stabilen Selbstvertrauen.
Das gilt für die Menschen aufnehmender Gesellschaften ebenso wie für die „Fremden“, die sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen und Angst haben, ihren Halt und ihr Selbstvertrauen zu verlieren, weil sie ihre kulturelle Identität verlieren könnten.
Diese Verlustangst ist unabhängig von Fakten; es reicht das Gefühl der Verunsicherung. So erklärt sich z. B., warum in den östlichen deutschen Bundesländern eine Ablehnung alles Fremden stärker ausgeprägt ist als im Westen, obwohl dort viel weniger Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund leben als im Westen.
Daraus erklärt sich auch, warum viele Mitbürger mit ausländischen Wurzeln in Deutschland sehr viel zurückgezogener, traditioneller und konservativer leben, als sie dieses im Heimatland tun würden.
Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin/Coach zu Themen Stress und Schamanismus in der modernen Heilpraxis, Buchautorin