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Innerer Schweinehund versus Eigenverantwortung

2014-02-Schweine1

An hohem Schreibtisch auf einem niedrigen Stuhl sitze ich hier und sehe aus lange nicht geputzten Fenstern in die Ferne. D., ein Prachtbau aus den 1970er Jahren, Stockwerk 11. Es ist Winter, es ist grau, meine demnächst unter 60 Kilogramm haben sich heute schon einmal gegen den Wind gestemmt. Da soll noch einmal jemand sagen, die Ostsee, meine Ostsee, sei eigentlich nur eine Badewanne!

Tagebuch einer Kur

fotolia©Peter AtkinsTag 1,5
Eingecheckt, die wichtigen Fragen geklärt, die meisten davon beim Warten auf den Fahrstuhl. Ich habe Rücken, ich habe Hüfte, na ja, eigentlich fast keine eher, aber ich habe mich entschieden, den Weg abwärts zumindest zweimal täglich mittels der Hinterhoftreppen zu bewältigen. Ich bin da aber ziemlich die einzige. Alle anderen warten tapfer auf den Fahrstuhl.

Gestern beim Arztgespräch: Blutdruck 160/105. Wie bitte? Normal habe ich, trotz meines Alters, 120/80. Der Arzt: „Einmal ist immer das erste Mal.“ Ich bin nicht beruhigt. Das kenne ich zwar aus meinem Leben, diese ersten Male, aber ... heute ist mein Blutdruck wieder normal! Trotzdem: Blutdruckseminar und weiter messen.

Tag 2
Wärmepackung, Aquajogging im Hallenbad und Gruppenrückengymnastik. Um 18 Uhr geht es zum typisch deutschen Abendbrot. Das bin ich nicht gewohnt, nicht so früh und nicht so kalt. Außerdem hätte ich gerne ein Bier dazu. Aber dann möchte ich rauchen, was aber bedeuten würde: runter aus dem 11. Stockwerk, raus in die Kälte und hin zu den anderen armen Süchtigen, die neben dem Fahrradständer ihrer bösen Leidenschaft nachgehen. Ich will es hinauszögern. Ich schaffe auch einen weiteren Tag ohne Zigaretten. Nach dem Essen werde ich noch einmal in den Aufenthaltsraum gehen und das WLAN ausprobieren. Es soll etwas schwach sein. Als Ersatz für sonstige aushäusige Aktivitäten gibt es Abendgeselligkeiten. Spieleabende mit Frau Meiermüller zum Beispiel, Filzen oder das Basteln von Taschenmessern. Ich werde wohl dauerhaft verzichten und mir stattdessen kulturell wichtige Actionfilme in mein externes Laufwerk einlegen.

Tag 3
Es ist Donnerstag. Draußen ist es immer noch grau und mein Therapieplan seltsam leer. Wieder war ich gestern um 20 Uhr im Bett, Frühstücken 7 Uhr. Bewegungsbad 8.30 Uhr. Gleich noch Gruppenphysio und um 14 Uhr Einzelphysio. Danach ist Schluss. Ich brauche dringend eine Kneipe, in der ich meinen Frust ersäufen kann. Ich habe auch schon Bescheid gegeben, dass ich gerne einmal eine Massage hätte gegen die ständigen Verkrampfungsschmerzen im Rücken. Stattdessen bekam ich zweimal Elektrotherapie hintereinander. „Dass macht der Computer, da kann man nix machen“. Ich glaube, ich wünsche doch keine Verlängerung. Drei Wochen wollen in Würde überstanden werden. Götter sei Dank habe ich genug Arbeit mitgenommen; ich bin beschäftigt. Und heute Abend gehe ich schwimmen. Mecker, mecker, mecker ...

Tag 8
31.1.: mein Geburtstag. Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl, hier in der selbstgewählten Anonymität einmal an diesem Tag mit mir ganz alleine zu sein. Die Tage verfliegen; ich ertappe mich dabei, wie ich überpünktlich am Eingang zum Speisesaal stehe, auch wenn ich eigentlich weder Lust auf Essen noch Hunger habe.

Gestern Arztgespräch wegen der wenigen Anwendungen. Nächste Woche sollen es mehr werden. Derweil gehe ich so oft ins Schwimmbad, wie es geht und laufe mehrmals täglich die 165 Stufen aus dem 11. Stock zumindest schon einmal nach unten. Die Entfernung zum Haus der Anwendungen beträgt rund 400 Meter. Mal vier ergibt das rund zwei km pro Tag Wanderung im Haus. Ich finde, ich bemühe mich ganz ordentlich.

Die Leute an meinem Tisch sind nett und gestern Abend waren wir zusammen ein Bier trinken. Mein Kur-und Tischgenosse Rolf aus Duisburg „hat Knie“. Früher lief er Marathon, heute humpelt er. Hier ist er, weil er unbedingt eine OP vermeiden will. 20 Kilo sollen auch weg. Im Moment schmecken diese geregelten Mahlzeiten aber zu gut und er richtet sich schon darauf ein, doch nichts abzunehmen. Er findet die Kur gut, besonders auch das Fitnessstudio. Hier kann er sich richtig verausgaben, er stellt daher die Gewichte höher und das Ergometer ebenfalls. Wird er zu Hause weitermachen? Nein, eher nicht. Begründungen? Lange Fahrtzeiten zur Arbeit, spät zu Hause, Fitnessstudios sind öde, Gymnastik bringe nichts. Diese Kur hier soll alles retten und entweder er kann wieder laufen oder eben nicht. Sein Vater liegt seit acht Jahren gelähmt im Bett, drei Schlaganfälle. Das Essen hier? Ganz gut, nur ein bisschen wenig Fleisch. Das Fleischessen liegt in seiner Familie, sagt er, auch der Sohn zu Hause mag nur Fleisch. Da kann man nichts dran machen. Stimmt wohl ...

fotolia©trueffelpixTag 11
... und noch habe ich meine eigenen Hüftgelenke, seit 25 Jahren schon, seit ich in Hamburg quasi auf dem OP-Tisch lag und der Operateur bereits das Messer wetzte. Damals hatte mich ein ebenso junger wie umsichtiger Oberarzt gerettet – er hat mir alle Zusammenhänge meiner Beschwerden erläutert. Meine Hüfte war schon mit 30 ziemlich im Eimer, ja, das wohl, aber die Schmerzen kamen woanders her, aus dem Rücken, aus einer Skoliose, und an allem könne man etwas machen, ich könne etwas tun, damit ich noch viele Jahre mit eigenen Gelenken beweglich bliebe. Diese Herausforderung hatte ich angenommen. Kann der Arzt hier doch nicht einfach sagen: „Nehmen Sie doch bitte etwas mit aus drei Wochen! Ich kann nicht verstehen, warum Sie eine Verlängerung wollen.“

Nachdem schon der Oberarzt die Verlängerung negativ beschieden hatte, tat dies auch der Chef, zunächst. Das Schlimme für mich: Er hatte sich weder meine Akte angesehen, noch wusste er, worum es ging. Ich war wirklich erschüttert und muss zu meiner eigenen Schande gestehen, dass ich emotional wurde. Ich merkte, wie Tränen aufstiegen und die Schmerzen des letzten Jahres auch hinauswollten. Ich sagte ihm, dass sei mir dann auch recht, und wenn die Schmerzen nicht verschwinden würden: Ich gehe nicht mehr mit Schmerzen und Krücken ins Büro. Sollen doch die Krankenkassen dieser Welt ohne meine Höchstbeiträge auskommen. Das goutierte er gar nicht. Er empfand mein Verhalten unangemessen, sprach von Dankbarkeit, die ich zeigen sollte und dass die Kur nur in schweren Fällen, die eng und genau begründet sein müssten, verlängert werden dürfe. Ich wollte ihn fragen, ob er die adipösen Patienten meint, die meckern und schimpfen, die sich abends in der Kneipe die Currywurst mit doppelter Portion Pommes und Mayo reinziehen? Meinte er all die Patienten, die sichtbar seit 100 Jahren keinen Fuß unnötig bewegt haben und jetzt Aua leiden? Ich war wütend und bestimmt auch ungerecht.

Tag 13
Die Tage sind sorgfältig eingeteilt und man lebt von Termin zu Termin. Die strahlenden Fixpunkte sind die Essenszeiten. Irgendwie interessiert einen das Draußen bald nicht mehr. An unserem Tisch sind wir ein eingeschworenes Team. Wir unterhalten uns, als kennen wir uns ewig, abends gehen wir hin und wieder aus und ich glaube, so mancher hier hat mehr von sich erzählt, als der Partner zu Hause von ihm weiß. Dabei kennen wir eigentlich nur unsere Vornamen. Aus Erfahrung weiß ich, dass wir Schiffe sind, die sich nachts begegnen. Nach der Kur werden wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen, Gefährten für eine kurze Zeit. Diese Zeit, in der man einmal herausfällt aus dem Täglichen, dem Alltäglichen, diese Zeit mit Fremden, die alle hier sind, weil sie gesundheitliche Probleme haben, weil sie Heilung suchen oder Verständnis, weil sie das Gefühl haben, dass sich nicht nur um sie gekümmert wird, sondern sie sich auch selber kümmern können, ist wichtig. Ein tolles System, dieses Rehasystem. Und wie hier Hunderte von Patienten logistisch und medizinisch betreut werden, und das Essen trotzdem schmeckt und die Zimmer sauber sind, ist schon eine Leistung. Warum so viele Patienten über genau diese Dinge im Internet lästern, kann ich nicht verstehen. Es muss wohl so sein, dass sie eigentlich alle in Villen mit viel Personal leben und jeden Tag die tollsten Menüs mit den perfekten Zutaten essen.

Tag 17
Mein „Tisch“ war gestern in Kappeln und hat riesenhafte Portionen Brathering gegessen. Alle bestätigten einstimmig, dass sie diese andere Geschmackskomponente dringend benötigt hätten. Ich hingegen hatte im nahegelegenen Markt Makrelenfilet mit Mayonnaise und Buttermilch mit Zitronengeschmack erworben; Oliven und Peperoni sind demnächst dran. Die Makrelen haben dann ganz schön im Magen gelegen, wogegen ein ortsüblicher Kräuterschnaps schnell Abhilfe schuf. Es gibt hier ja eine Kneipe und da gehen wir manchmal hin. Einmal raus. Und da sitzen wir und kennen uns eigentlich nicht und doch schon ziemlich gut. Bernd fährt morgen nach Hause. Kalle, der Mann von Anna ist zu Besuch. Er fragt, was wäre, wenn der Tisch sich nicht so gut verstehen würde: „Was macht man dann hier so alleine?“ Wir geben zu, dass wir Glück gehabt haben, aber wir sind ja auch nett, oder?? Was wir sagen wollen: Für zurückgezogene Einzelkämpfer wäre auch dieser Tisch fremd geblieben und offene Menschen finden immer Anschluss, auch wenn es mit dem Tisch nicht klappt. So ist es aber besser, da wir kräftig gemeinsam und miteinander am Erfolg unserer Kur arbeiten. Wir richten uns gegenseitig wieder auf, wenn`s mal einem nicht so gut geht, immer ein Scherz auf den Lippen, aber durchaus kommen auch ernste Gespräche auf. Ob bei den Mahlzeiten oder bei Spaziergängen oder abends beim Bier: Jeder erzählt von sich, aus seinem Leben, auch von ganz schwierigen Situationen. Es ist erstaunlich, was so eine „Gruppentherapie“ für Einfluss auf das Wohlbefinden hat.

Tag 20
Gestern war Tanzabend im Café. Unser Tisch hatte sich vorgenommen, einmal zu schauen, wer da zu welcher Musik tanzt.

Das Café war voll, der Aschenbecher draußen auch. Faszinierend aber war, wie viele Menschen ins Gespräch kamen und wie voll die Tanzfläche (trotz orthopädischer Reha) war. Da tanzte die Dame vom Nachbartisch im Speisesaal (die nie ein Wort sagt, immer leicht missmutig überheblich dreinschaut) plötzlich mit Leichtigkeit und zufriedenem Gesichtsausdruck. Dann tanzte da die Frau mit den teilweise abrasierten roten Haaren und ich hatte noch gedacht: Schau, selbst Punks mögen Schlager. Aber dann wurde ich aufgeklärt. Meine Tischnachbarin hatte die junge Frau bei einer Anwendung getroffen: Sie hat zwei kleine Kinder und vor einer Woche noch im Rollstuhl gesessen. Einen faustgroßen Tumor hatte man ihr aus dem Kopf geholt – fast. Und nun tanzte sie, weil man jede Stunde genießen muss.

Besonders beeindruckend war ein junges Paar auf der Tanzfläche. Das Außergewöhnliche war, dass er auf seinen Beinen tanzte und sie im Rollstuhl. Das Ganze ist doch mehr als die Summe seiner Teilchen.

fotolia©magannTag 21
Eigentlich wäre meine Reha heute zu Ende. Rolf und Anne fahren nach Hause. Da bleiben Erika und ich allein zurück, da wir dann doch Verlängerung ergattert hatten. Heute hatte ich Einzelphysiotherapie. Die Therapeutin sah sich wirklich einmal meine Hüfte an. Diese blöde Hüfte, die mich mein ganzes Leben schon nervt und die Dreh- und Angelpunkt allen Leidens ist, Rücken hin, Schulter her. Und dann sagte sie: „Sie sind schwach. Zu viel Stress macht den Körper schwach und ihre Hüfte auch.“ Dann zog sie und drehte und ließ mich Übungen machen ... und zum ersten Mal schien sich etwas zu tun. Und nur noch eine Woche!! Panik!! Diese Worte „Sie sind schwach!“, gehen mir nicht aus dem Kopf. War alles umsonst? Fahre ich mit Schmerzen nach Hause? Die Übungen, die sie mir gezeigt hat, habe ich vergessen, und nur noch einmal Einzelphysio.

Was bringt eine Kur? Wann? Und wem? Neulich im Seminar zum Thema Rückenbeschwerden. Beschreibt der vortragende Arzt: „Ganz oben bei vielen Patienten steht der Leitgedanke, dass die Klink/der Arzt/die Therapeuten es schon richten werden! Viele von Ihnen kommen hierher, weil Sie glauben, dass Ihnen hier geholfen wird. Wir bemühen uns. Aber ein wesentlicher Teil hängt von Ihnen ab, Ihrer Bereitschaft, aber auch Ihrer Ansage, Ihrem Feedback, Ihrem Wissen über Ihren Körper, Ihren Zustand.“ Heute im Aufzug sprachen drei Frauen über die Kur und über das Abnehmen, als ich einstieg. Eine der Frauen lachte und sagte, sie hätte schon acht Kilogramm abgenommen in den drei Wochen. Wie, fragten die Frauen: „Na ja, FDH und viel Sport und viel Bewegung, vor allem abends keine oder wenige Kohlenhydrate.“

Die beiden anderen Frauen schüttelten den Kopf und fragten, wie das zu Hause funktionieren solle? „Aber dann bist du erst einmal wieder zu Hause und im täglichen Trott und alles ist hin.“ Ich verkniff mir jeglichen Kommentar, denn ich weiß selber, dass der innere Schweinehund ein großes kräftiges Tier ist. Ich weiß, Kur ist ein Ausnahmezustand, es ist ein wenig so wie im Auge des Hurrikans. Nur für den Moment ist man sicher und alles ist ruhig. Aber man kann diese Zeit doch für Reparaturen und wichtige Dinge nutzen, um dann zu versuchen, den Hurrikan zu überstehen, ihm zu entkommen und sich von diesem Erfolg dann tragen lassen zu können, statt zu sagen, dass man nun nichts tun kann und der nächste Hurrikan kommt sowieso und überhaupt, warum rettet mich niemand?

Tag 23
Nur noch vier Tage mit Anwendungen und ein Wochenende. Wieder sind viele Leute abgefahren. Den größten Teil der Mitpatienten kenne ich nicht mehr. Ein paar „Alte“ sind noch da. Wir grüßen uns wie alte Bekannte.

Gestern gab es noch ein Seminar zum Thema Rückenbeschwerden. Wieder wurde darüber gesprochen, was jeder selber tun kann. Da hauptsächlich neue Patientinnen da waren, gab es ungläubige Gesichter. Wie, selber ... was denn? Andererseits, zu Zielen befragt, gaben einige an, sie wollten ihre Schmerzen loswerden. Andere erklärten, dass alles nur Sinn mache, wenn sie wieder am Marathon teilnehmen könnten. Leider hätten sie kaputte Knie. Ein anderer Patient beklagte, dass ihm nun, da er jeden Tag mehrfach die Treppe in den 10. Stock bewältigte, sein Knie wehtäte. Dabei sei doch dazu geraten worden!

Ziele! Ziele sollten realistisch sein. Es sei, so der Professor, nicht realistisch, drei mal täglich 11 oder mehr Stockwerke rauf und runter zu laufen, wenn man bisher immer den Aufzug benutzt hat. Und der Wunsch, 30 Kilo abzuspecken, sei ja zu unterstützen, aber nicht, wenn der Zeitrahmen dafür bei drei Wochen liegt. Realistische Ziele. Darauf komme es an. Realistische Ziele und die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben, Geduld und Ausdauer.

Schreibt mir meine Tochter: „Mama, einfach weitermachen, dein Körper weiß gerade nicht wie ihm geschieht. Jahrelanges Nichtstun.“ Ich weiß, sie meinte es anders, aber ich finde es gut, dass sie gerade weit weg ist.

21. Februar 2014, Tag 25
Die meisten Therapeuten hier empfinde ich als sehr engagiert. Sie haben einen straffen Zeitplan, doch sind sie immer freundlich und kompetent, hilfsbereit und erscheinen gut ausgebildet. Interne Fortbildung werde gefördert, erzählte mir einer der Physiotherapeuten. Deshalb sei es hier besser als in anderen Einrichtungen.

Viele Patienten sind hier, weil ihnen etwas passierte, weil das, was passierte, irgendwie von außen kam oder eine logische Folge von Geschehnissen war, die sie zum einen nicht zu verantworten haben, für die sie nichts können oder an denen sie nichts ändern können. In zahlreichen Fällen stimmt das auch. Da sind die MS-Patienten, die junge Frau mit dem Gehirntumor, der schreckliche Unfall mit dem Auto, Fehlbildungen an Gelenken. Aber da sind auch wir anderen mit zu wenig Bewegung und einem Zuviel an Stress, einem Zuviel an Nikotin vielleicht oder Alkohol oder beidem oder allem. Da sind die vielen Patienten mit immensem Übergewicht und diejenigen, die jetzt hier sind, aber alle Anwendungen mit Minimalaufwand mitmachen. Die gehen diese Reha an wie der Mann, der gestern im Wartebereich neben mir saß und seinen Therapieplan ansah: „Morgen habe ich um 11 Uhr eine Anwendung und noch eine um 14 Uhr. Die lasse ich ausfallen, macht mir ja den ganzen Tag kaputt. Da fahre ich lieber ein bisschen durch die Gegend.“

Alles eine Sache der Einstellung. Das ergab heute auch das Stressseminar. Die Stunde war unterhaltsam. Die Diplompsychologin hat getan, was sie konnte, um uns in einer Stunde diese Thematik näherzubringen, hat auch die klassischen Stressbewältigungsstrategien erwähnt. Erwähnt: Denn auch die guten Alltagsbeispiele konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles sehr an der Oberfläche blieb. Sie sprach davon, dass Stress unterschiedlich empfunden werde. Was für die einen eine (zusätzliche) Belastung ist, ist für andere eine Herausforderung. Sie sprach von positivem Stress, der gut sei.

Das sei nur bedingt richtig, denn dem Körper ist es gleichgültig, ob Druck, Ziehen und Zerren positiv ist oder negativ. Am Ende bleibt die Anspannungskurve dauerhaft oben, und das ist nie gut.

Sie machte mit uns einen kurzen Burnout-Test. Aus rund 30 Fragen sollten wir die Ja-Antworten zusammenzählen. Acht „Ja“ und mehr sollten zu Nachdenken führen, bei zehn „Ja“ und mehr sollte man einen Arzt aufsuchen. Was aber, wenn man z. B. nur vier „Ja“ erreicht, diese aber alle klassische Sinnfragen betreffen, bei denen eventuell zwar kein Indikator für Stress vorliegt, aber sehr wohl aber für Depressionen? Was, wenn einer ständig wunderbar mit einer Flasche Wein entspannen kann und dieses auch tut, ansonsten alle Punkte mit „Nein“ beantwortet. Ist für ihn grundsätzlich und im Einzelfall alles in Ordnung? So prognostisch?

Es gibt bestimmt Patientinnen, die haben einige Termine beim Psychologen, nehmen am Stressseminar teil, eventuell auch noch am Motivationstraining und erlernen hier eine Entspannungstechnik in den Grundzügen. Die meisten Leute, mit denen ich sprach, haben jedoch nur mal das eine, mal das andere. Wer hier nicht schon vorgeschult ist oder/und ohnehin die Notwendigkeit sieht und hier nur einen zusätzlichen Anreiz erwartet, der macht z. B. einen Kurs nach Jacobsen mit und weiß nicht wirklich, warum er dieses tut, und wo der Spätnutzen liegen soll.

Tag 26
Hüfte hin, Lendenwirbel her. Bei diesem Traumwetter hält einen doch nichts am Schreibtisch. Neun Kilometer zur Steilküste, die nördliche Begrenzung dieser Bucht. Da wollte ich schon die ganze Zeit hin. 2,5 Stunden später war ich pünktlich zum Mittagessen zurück. Wieder einmal mehr war mir klar geworden, dass stets der Weg das Ziel ist. Die Steilküste war von Nahem weder richtig steil noch war sie überhaupt imposant, wie sie von Ferne suggeriert hatte. Aber fern war sie gewesen. Und die rund zehn Kilometer waren eine ordentliche Tour, eine wunderschöne dazu.

Draußen beim Rauchen hört man immer Geschichten, überhaupt verbindet gemeinsames Rauchen am Pranger, in der eigens mittig erbauten Raucherlounge. Operiert wird anscheinend in Deutschland, was das Zeug hält, ein Mitpatient hatte die Zahl 230 000 Hüften pro Jahr gehört.

Meinem neuen Tischnachbarn, der 2009 mit 47 die erste, jetzt mit 51 die zweite Hüfte bekommen und dazwischen noch eine OP an der Halswirbelsäule hatte, habe ich gesagt, dass intensives Rauchen schon ein Calciumräuber sei, besonders, da er mindestens eine große Schachtel pro Tag rauche. Ja, sagte er, das sagt man so, man sagt ja vieles. Wenn man danach ginge, dürfe man ja gar nichts mehr. Ich sagte ihm, dass dieses eine beliebte Ausrede für alle und alles sei, mit dem man sich nicht auseinandersetzen möchte. Da gab er mir Recht. Den Zusammenhang zwischen dem, was man tut, und dem, wie der Körper reagiert, wollte er aber nicht sehen. 20 Jahre Montage, sagte er, da kann man nichts machen, er sei froh, dass er einen so guten Arzt habe.

Ende
Als ich in D. ankam, war mir klar, dass drei oder vier Wochen zunächst endlos erscheinen, aber ebenso schnell auch vorbeigehen würden – genauso wie das ganze Leben.

Das, was bleibt, wenn wir gehen, ist die Erkenntnis, ob wir unseren eigenen Einfluss geltend gemacht, unsere eigenen Entscheidungen getroffen haben und die Konsequenzen mittragen konnten. Und was für das große Ganze gilt, hat auch Gültigkeit im Kleineren, z. B. bei einer Reha.

An meinem letzten Tag wollte ich weinen. Der Arzt wollte mich arbeitsunfähig entlassen, was ich ablehnte. Ich hatte Schmerzen überall, eine Einzelbehandlung war nicht mehr aufzutreiben, und die Waage zeigte an: minus 700 Gramm. Ich fuhr ab mit Beschwerden, die ich vorher nicht hatte und mit dem Gewicht, mit dem ich angereist war. Kurzfristig hatte ich das Gefühl, dass alles umsonst gewesen sei, alles vergebliche Liebesmüh.

Jetzt zehn Tage später und um die Erkenntnisse reicher, dass ich es erstens übertrieben hatte mit Sport und zweitens nicht mehr 25 Jahre alt bin, dafür aber mit Arthrose gesegnet, sieht die Welt dennoch wieder anders aus. Die Schmerzen sind – fast – weg und die, die da sind, akzeptiere ich – zunächst einmal. Ich hatte die Kur aus freien Stücken beantragt und aus freien Stücken hatte ich mich völlig in sie hineinbegeben. Für mich bedeutete sie eine Initialzündung. Ich kann etwas tun und ich habe Einfluss auf mein Leben. Ich bin kein hilfloses Opfer, eine Reha ist kein Wunderheilmittel und die Ärzte und die Klinik arbeiten profitorientiert nach Maßgaben der Rentenversicherungsträger. Aber dennoch, man kann viel mitnehmen aus vier Wochen Reha, auch die Gewissheit, dass wir nur mit der Übernahme der Verantwortung für unser eigenes Leben einen hinreichenden Einfluss auf dieses gewinnen können. Ich bin gestärkt und motiviert und voller Elan – und ich habe plötzlich zwei weitere Kilo abgenommen, die sich seit Jahren fest an mich geschmiegt hatten. Mein Körpergefühl ist ein anderes. Ich brauche jetzt Bewegung, ich esse anders. Ich habe Entscheidungen, die lange überfällig waren für mich, getroffen, die mir zeigen: Ich bin ich. Ich lebe meine Leben überall da selbstbestimmt, wo ich es irgend kann.

Ich glaube, dass ich in meinen Seminaren, in Beratung und Behandlung diese Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wieder mehr zum Thema machen werde. „Wieder ein Päckchen mehr zu tragen“, hörte ich neulich. Ein anderes Mal: „Aber da habe ich doch ein Recht drauf, das steht mir zu.“

Ich weiß nicht, ob uns etwas zusteht, und wenn ja, was. Tatsache ist, manche Dinge geschehen „einfach“, auf viele haben wir aber auch Einfluss, und zwar erheblichen. Nutzen wir diesen und unterstützen damit nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Patienten und Klienten!

Carola Seeler Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin/Coach Themen Stress und Schamanismus in der modernen Heilpraxis, Buchautorin
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